Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Eingängen und Zivilisten mit dunkel getönten Mienen in den Fluren. Yeremi hätte sich gerne mit Saraf über ihre Fluchtgedanken unterhalten, aber es war unmöglich. Ein Gutes hatte dieser »Schutzwall« allerdings. Er hielt zuverlässig die Reporter ab.
    Schon am Mittwoch, dem Tag von Yeremis Ankunft, waren die ersten Journalisten vor der Casa Joaquin Murrieta aufgetaucht, von der Campuspolizei unter Androhung eines Hausverbots jedoch bald vertrieben worden.
    Am folgenden Spätnachmittag veranstaltete die Anthropologische Fakultät eine Pressekonferenz. Yeremi durfte Saraf Argyr ein zweites Mal der Öffentlichkeit vorstellen, doch jetzt führte Al Leary Regie. »Ein falsches Wort, und Flatstones Geduld mit dir ist ein für alle Mal zu Ende«, raunte er ihr kurz vor Beginn der Veranstaltung zu. Professor McFarell ließ sich nicht blicken.
    Die Abendnachrichten widmeten dem Silbernen Mann dann auch einen ausführlichen Beitrag. Wieder tauschten Experten Meinungen aus. Konnte es so etwas geben? Einen Menschen, der im Buch der Gefühle anderer zu lesen und sogar zu schreiben vermochte? Einige Psychologen und Psychiater erkannten den therapeutischen Nutzen einer solchen Gabe, aber es gab auch andere, die vor dem Silbermann warnten. Im gespaltenen Lager der Militärexperten wurde Saraf Argyr entweder als der Prototyp zukünftiger Antiterrorkämpfer bezeichnet oder als brandgefährlicher Superspion. Ein Wissenschaftler propagierte ihn als »nächsten Schritt und erstes zuverlässiges Indiz der Evolution«, ein zweiter nannte ihn dagegen »das letzte Modell aus der Serie ›Krone der Schöpfung‹, aus dem noch kein Zacken ausgebrochen ist«. Auch die Kirchen und einige kleinere religiöse Gruppierungen wollten sich in die Diskussion einbringen und erkannten Saraf Argyr als göttlichen Wink, der die Menschheit zur Besinnung bringen sollte, oder als teuflischen Verführer, der möglichst umgehend im Tartarus unter Arrest zu stellen sei. Erstaunlicherweise meldeten nur wenige Zweifel an Sarafs Fähigkeiten an.
    Der Freitag stand ganz im Zeichen psychologischer Tests. Die Großraumlimousine mit den dunklen Scheiben fuhr Yeremi und Saraf in die Warren Hall auf der anderen Seite des Campus. Hier residierte die School of Public Health. An diesem Tag beobachtete Al Leary die Untersuchungen. Er hatte sich hinter einer halb verspiegelten Glasscheibe versteckt, aber Saraf entdeckte ihn innerhalb weniger Minuten am »Klang seiner Gefühle«. Yeremi war einigermaßen aufgebracht, doch Leary beruhigte sie. Es dürfe sie kaum verwundern, wenn er als Psychologe diesen Teil der Experimente verfolge. Schließlich gab Yeremi nach.
    Man ermittelte an diesem Tag die Intelligenzquotienten der beiden Probanden und attestierte ihnen eine Begabung »jenseits der Genialität«. Saraf erreichte einen unglaublichen Wert von zwei-hundertvierzehn, Yeremi lag zweiundzwanzig Punkte hinter ihm. Anschließend versuchte man, das Paar auf telepathischem Wege zu »verdrahten«. Sie nahmen beiderseits einer Trennwand Platz. Yeremi sollte sich entspannen und anschließend eine Reihe von Karten betrachten, auf denen sich Schattenrisse befanden: Anker, Herz, Mann, Kreuz, Frau, Kreis, Säugling… Saraf durfte ihre Gedanken lesen, was ihm nicht gelang. Jedenfalls nicht richtig. Je abstrakter nämlich die Motive waren, desto mehr gerieten seine Antworten zur Raterei, die Trefferquote war zufallsbedingt gering. Wenn sich das Bild jedoch mit einem Gefühl in Verbindung bringen ließ – das Herz mit der Liebe oder ein Baby mit mütterlicher Fürsorge –, dann konnte er das Motiv mit großer Zuverlässigkeit bestimmen.
    Anschließend wurde das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen wiederholt. Diesmal betrachtete Saraf die Karten. Der Versuchsleiter mahnte ihn inständig, seinen Silbernen Sinn »auszuschalten«, also nicht bewusst Gefühle zu transportieren. Anfangs gab Yeremi ihre Tipps eher widerstrebend ab. Wozu das Ganze? Saraf war der empathische Telepath, nicht sie. Ihre Treffer konnten nur zufällig sein. Dann geschah etwas Sonderbares. In dem Labor herrschte völlige Stille. Der Versuchsleiter sprach nur, wenn es unbedingt nötig war. Yeremi schloss die Augen und versuchte, etwas zu sehen: einen Anker, ein Herz, eine Frau. Aber sie sah nichts. Stattdessen begann sie plötzlich zu hören.
    Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie riss die Augen auf und sah den Versuchsleiter an, einen rundlichen Psychologen mit Brille und Halbglatze. Der machte ein

Weitere Kostenlose Bücher