Der silberne Sinn
entfuhr es Yeremi. Sie sprang vom Sessel auf und deutete auf die alte Kleidertruhe, die rechts von ihr an der Wand stand. Mit drei, vier schnellen Schritten war sie bei der großen Kiste. Sie bestand aus dunklem braunrotem Holz, das an einigen Stellen schwarz war. Aufwändiges Schnitzwerk aus Engelsgesichtern und Blumenranken bedeckte die gesamte Außenseite, die in mehrere Kassetten aufgeteilt war. Yeremi ging davor in die Knie und fing an, die Figuren und Verzierungen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter abzusuchen.
Ihr Verhalten hatte Neugier geweckt. Bald standen Saraf, Carl, Fredrika und Ed hinter ihr.
»Was suchst du eigentlich, Kind?«, fragte ihre Großmutter.
»Den Mechanismus, der das Geheimfach öffnet.«
»Aber ich weiß gar nichts von einem…«
»Dann wäre es ja kein Geheimfach mehr, Oma Fredrika. Überlegt doch mal: Uroma Rose hat immer gesagt, nur die Engel wüssten um die Geheimnisse Hanussens. Sie meinte gar keine richtigen Engel, sondern die da.« Yeremi deutete auf die Putten.
Ed nickte anerkennend. »Das ist ein prüfenswerter Ansatz.«
»Du warst zu lange beim Geheimdienst«, brummte Carl.
»Ich habe auch schon solche Truhen gesehen«, mischte sich Saraf ein.
Alle sahen ihn verwundert an.
»Wo?«, fragte Yeremi.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete er ausweichend.
Yeremi ließ sich nicht ablenken. Sie betastete die Truhe. Sie drückte hier, zog da, schob dort. Als sie den rechten Zeigefinger in den Mund eines Engels steckte und wie ein Zahnarzt dort herumdrückte, glaubte sie eine leichte Bewegung wahrzunehmen.
»Da ist etwas! Aber ich kann es nicht runterdrücken.«
»Vielleicht gibt es eine zweite Engelszunge, die du lockern musst«, schlug Saraf vor.
Yeremi nahm die Linke zu Hilfe und stocherte, während ihr rechter Zeigefinger weiter zwischen den Lippen des ersten Engels steckte, in den Mündern der anderen herum. Plötzlich ließen sich, ganz leicht, beide Finger herunterdrücken. Es klickte leise.
»Da ist was aufgesprungen!«, sagte Ed aufgeregt.
Yeremi erhob sich, öffnete den Deckel der Truhe und räumte den Nachlass ihrer Urgroßmutter heraus: Dokumente, Erinnerungsfotos, Kleidungsstücke, ein zusammengerolltes Ölgemälde und einiges mehr. Unvermittelt verharrten Yeremis Hände. »Da ist es!«, flüsterte sie.
Ed beugte sich über die Truhe. »Der Boden ist beweglich. Drücke noch mal die Engelszungen.«
Yeremi tat es, und das nun unbelastete Bodenbrett sprang um Daumenbreite nach oben. Sie griff mit beiden Händen in die Kiste, richtete die quietschende Klappe auf, und zum Vorschein kam…
»Eine schwarze Akte?«, flüsterte Ed.
Yeremis Augen strahlten. »Nicht irgendeine – es ist die schwarze Akte. Darin müssen die Dokumente zu finden sein, die Moltridge und Baecker unbedingt von Rose bekommen wollten.«
»Und was soll da drinstehen?«
Yeremi tauschte einen langen Blick mit Carl, bevor sie antwortete: »Ein Geheimnis, für das mein Urgroßvater Hanussen sterben musste.«
Eine Familie, ganz versunken in die Betrachtung eines Albums mit Urlaubsfotos – genau so sahen die fünf aus. Yeremi saß auf einem schweren Sofa, rechts von ihr Carl, links Ed, und hinter ihnen standen Fredrika und Saraf. Im Laufe der Zeit wechselten sie gelegentlich die Positionen, hier wurde ein Stuhl hinzugezogen, dort ein Tablett mit Getränken bereitgestellt – die schwarze Akte war umfangreich.
Schon beim ersten Überfliegen stieß Yeremi auf brisante Informationen. Einige Blätter beschäftigten sich mit dem Medusa-Projekt. Hanussen beschrieb akribisch die Zielsetzungen und Vorgehensweisen der Nazis. Offenbar hatte er seinen Bericht als »Gastgeschenk« für den amerikanischen Militärgeheimdienst G-2 verfasst. Um Methoden zur Manipulation von Menschen zu entwickeln, wurde mit Hypnose, Suggestion, Telepathie, Drogen, Folter und vielem mehr experimentiert. Mehrere Listen von Versuchsreihen lagen dem Bericht bei. In einer Notiz beschwerte sich Hanussen über ein »unbrauchbares« Medium, das einfach nicht mit ihm habe zusammenarbeiten wollen (dieses Wort war doppelt unterstrichen).
Als Yeremi weiterblätterte, stieß sie auf etwas Aufregendes. Es handelte sich um den Durchschlag eines Briefes an ihre Urgroßmutter Rose Bellman, geborene Presi. Er trug das Datum des 24. März 1933.
»Am selben Tag hat die Gestapo meinen Vater verhaftet«, flüsterte Carl.
Yeremi nickte. »Und in der darauf folgenden Nacht wurde er ermordet.«
Sie bemerkte die nachlässige
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