Der silberne Sinn
ihr fest in die Augen. Nach einer Weile sagte er ebenso langsam wie eindringlich: »Du hast nicht versagt, Jerry. Heute bist du stärker als je zuvor. Denke nur an die Versuche der Gelehrten in den letzten Tagen: Selbst sie haben deinen Fühlsinn bemerkt. Du besitzt ein gutes Herz, was sehr wichtig für einen Träger dieser Gabe ist. Das Einzige, was dir noch fehlt, ist der Mut, sie auch einzusetzen.«
»Ich will nur nicht von Al Leary und Flatstone dazu missbraucht werden, andere Menschen zu manipulieren. Als ich Al im Caffe Trieste auf die russischen Dissidenten angesprochen habe, die man mit Neuroleptika gefoltert hatte, meinte er zynisch, es habe viele Versuche gegeben, die Gedanken und Empfindungen von Menschen auf stümperhafte Weise zu manipulieren.« Yeremi blickte schmerzerfüllt und zugleich fragend in die Runde. »Was hat er wohl damit gemeint? Denkt ihr nicht auch: Er sucht die perfekte Waffe, und – jetzt ist mir klar, wie Recht Saraf damit hat – in mir hofft er sie gefunden zu haben.«
Carl nickte gewichtig. »Das würde erklären, warum ihn das Aussterben des Silbernen Volkes nicht weiter störte.«
»Deshalb haben sie mein Volk vorsätzlich ermordet«, korrigierte Saraf ihn voller Schmerz. »Sie hatten die Knotenschnüre, sie hatten Yeremi, und sie rechneten sich aus, dass es noch weitere begabte Menschen wie deine Enkelin geben würde. Mit dem von Al Leary gesuchten ›Super-Telepathin‹ konnte man solche Menschen nach Belieben kontrollieren, aber eine Gruppe wie das Silberne Volk – Menschen, die den Fühlsinn auch ohne die Droge besaßen – war gefährlich für sie. Sie könnte sich eines Tages gegen die Mächte eures Landes stellen. Einen Vorgeschmack davon hatten sie ja bereits zu spüren bekommen. Deshalb haben sie die gelben Geister geschickt.«
Ed kratzte sich am Hals. »Das musst du uns genauer erklären, Saraf – die Sache mit dem ›Vorgeschmack‹ meine ich.«
Sarafs Augen lösten sich von Yeremis Gesicht. »Im Rat unseres Volkes gab es einen Bruder namens Ugranfir. Al Leary hatte ihn betört, indem er ihm die Stellung des Hüters unseres Volkes versprach. Dazu musste ich jedoch aus dem Weg geräumt werden. Der Seelenheiler wollte mich eigenhändig vom Dach des Waldes stoßen, von Ugranfir verlangte er nicht mehr, als mich unter einem Vorwand auf den Felsen zu locken. Ich konnte meinen Bruder jedoch zur Besinnung bringen. Er muss dann in der Dunkelheit zu Al Leary gegangen sein, um ihm eine Absage zu erteilen…«
»Und dann stieß Al ihn in die Tiefe«, flüsterte Yeremi bestürzt.
»Es könnte eine Verwechslung gewesen sein«, meinte Carl.
»Und was bedeutet das? Deswegen bleibt er trotzdem ein Mörder.«
»Jerry dürfte die Wahrheit sagen«, pflichtete Saraf ihr bei. »Als Colonel Hoogeven mich wegen Ugranfirs Tod aushorchte, war auch Al Leary anwesend. Ich konnte seine Gefühle spüren. Er versuchte, die Anwesenden von einer Selbstentleibung Ugranfirs zu überzeugen, und war dabei voller Angst.«
»Ich glaube, ihr beiden seid keinen Moment zu spät aus Berkeley geflohen«, sagte Ed.
»Wie meinst du das?«, fragte Yeremi.
»Überleg doch mal: Die Experimente der letzten Tage haben bewiesen, welche Fähigkeiten in dir stecken, Yeremi. Damit sind sie ihrem Ziel, die empathische Telepathie beherrschbar zu machen, ein großes Stück näher gekommen. In Wirklichkeit war Saraf die Referenzperson, nicht du. Sie haben bald keine Verwendung mehr für ihn, zumal sich eine Entschlüsselung der Quipus erübrigt hat. Vermutlich hätte man noch eine Zeit lang versucht, ihm sein Wissen über den Inhalt der Knotenschnüre zu entlocken, aber früher oder später wäre er für sie nur noch ein unbeherrschbares Risiko gewesen. Seine Gabe lässt sich nicht durch irgendeine Droge nach Belieben ein- und ausschalten. Sie ist immer präsent. Deshalb hätten sie mit ihm das Gleiche getan wie mit seinem Volk.«
»Erzähl den beiden, was du herausgefunden hast«, forderte Carl seinen Verwandten auf.
Ed legte die Fingerspitzen seiner gespreizten Hände aneinander, suchte dann anscheinend nach den passenden Worten und sagte schließlich: »Ich habe einen alten Kameraden vom CIA aufgespürt, der mir etwas über Sam Iceberg und das Jonestown-Massaker erzählt hat. Er sagte, Iceberg habe vor siebenundzwanzig Jahren sein Projekt zur Manipulation menschlicher Gefühle vorübergehend eingefroren, nachdem Reverend Jones durch eine Geisteskrankheit unberechenbar geworden war.«
»Könnte diese
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