Der silberne Sinn
sich an, als Saraf sie darum bat. Ohne wirklich etwas zu erkennen, blickte sie aus dem Wagenfenster, hinter dem dieselben Häuser vorbeizogen wie am Morgen, nur in umgekehrter Reihenfolge. Es war gegen drei Uhr nachmittags. Ihr wollte nicht aus dem Sinn gehen, was Ratnakar Chidambarampillai über ihre SPECT-Aufnahme gesagt hatte. Ich tippe auf eine außergewöhnliche Begabung. Wie Nebelschwaden zogen Erinnerungsfetzen an ihr vorüber. In den letzten Wochen hatte sie hin und wieder geglaubt, die Empfindungen anderer Menschen erraten zu können. Diese Erfahrung war neu für sie… Nein, das stimmte nicht. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich dunkel an eine Zeit, in der die Gefühle anderer für sie genauso fassbar waren wie ihre Worte, Gerüche und Berührungen.
Ein Zittern durchlief Yeremis Körper, als sie sich jäh eines im Schlamm stecken gebliebenen Lastwagens entsann. Es war in Jonestown. Über der Dschungelsiedlung lag ein grauer, klammer Schleier aus schrecklichen Gefühlen. Angst kroch in ihren kleinen Körper und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte ihre Mutter angefleht, auf den Truck zu steigen und mit Congressman Ryan zu gehen. Aber ihre Eltern konnten nicht spüren, was sie fühlte. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf.
»War es ein Zufall, dass sie ausgerechnet mich als Referenzperson ausgewählt haben?«, murmelte Yeremi vor sich hin. Sie empfand plötzlich das starke Bedürfnis fortzulaufen, sich diesen Menschen zu entziehen, die ihr drohten und die sie anscheinend für ihre Zwecke missbrauchten. Yeremi wandte sich nach links und blickte in Sarafs Gesicht. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Was bedeutete das? War es ein Nein? Oder wollte er sagen: Später, Jerry, jetzt muss ich mich auf etwas anderes konzentrieren…
Die Antwort kam schnell, überraschend und wieder einmal auf jene bizarre Weise, die für Sarafs Aktionen typisch war.
Die beiden schwarzen Vans näherten sich gerade einer Baustelle, in der ein Bulldozer Erde aushob. Der einspurige Verkehr wurde hier von einer Ampel geregelt, die eben auf Rot geschaltet hatte und damit den vorderen Wagen, in dem Yeremi und Saraf saßen, zum Halten zwang. Die nachfolgende Limousine mit Al Leary und zwei CIA-Agenten rückte so dicht auf, dass keine Postkarte mehr zwischen die Stoßstangen der Fahrzeuge passte; sie hielt genau auf Höhe einer Einmündung. Yeremi bemerkte, wie Saraf sich umdrehte und die Querstraße hinaufsah. Von dort näherte sich ein Nahverkehrsbus und blieb vor Limousine Nummer zwei stehen. Der Busfahrer schimpfte hinter seiner Scheibe, weil der schwarze Wagen die Einmündung versperrte.
Etwa eine Minute lang bewegte sich nichts. Nur der Gegenverkehr zwängte sich durch den Engpass und scherte vor der wartenden Fahrzeugkolonne, aus Yeremis Sicht, nach links aus. In der Lücke zwischen zwei vorbeifahrenden Taxis entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite unvermittelt eine alte Frau in zerlumpten Kleidern, vermutlich eine Obdachlose. Sie schob einen rostigen Einkaufswagen voller Gerümpel vor sich her, vermutlich die Ausbeute langen »Fischens« im Müll, für die sie nun einen Käufer suchte.
Plötzlich brüllte der Motor des Busses auf. Yeremis Kopf flog herum, und sie sah, wie sich das mit Passagieren voll besetzte Fahrzeug in Bewegung setzte. Der Busfahrer wetterte nicht mehr, sondern blickte vielmehr schmachtend zur anderen Straßenseite hinüber, wo die zerlumpte Frau ihren Wagen schob. Krachend traf die flache Schnauze des Busses gegen die Flanke von Learys Van und schob diesen über die gesamte Fahrbahnbreite hinweg auf den gegenüberliegenden Gehsteig, wo er vor dem Schaufenster eines Cafes zum Stehen kam, ohne das Glas zu zerbrechen.
Die beiden Agenten in Yeremis Wagen verfolgten ungläubig die Arretierung ihrer Kameraden – rechts waren die Türen des Vans durch den Bus versperrt und links durch die Fensterscheibe. In dem Cafe beäugte man neugierig die in dem Wagen um ihre Freiheit kämpfenden Männer. Schnell zog jedoch der Busfahrer die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Er öffnete schwungvoll die Tür, sprang aufs Trottoir, umrundete sein langes Fahrzeug und näherte sich stürmisch der inzwischen stehen gebliebenen Gerümpelsammlerin. Sie hatte schon nicht schlecht über die Riesenschubkarre gestaunt, nun jedoch gingen ihr die Augen erst richtig auf: Der Busfahrer ging vor ihr auf die Knie, bedeckte sein von Liebe überschwemmtes Herz mit den Händen und machte ihr
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