Der silberne Sinn
von hinten die Hände auf die Schultern. »Ja, Jerry, sie wollten dich. Der Brief deines Urgroßvaters lässt kaum noch Zweifel über Doktor W. Baeckers Verbindung zu S. Arthur Moltridge aufkommen. Und dessen geistiger Nachlassverwalter ist Jefferson H. Flatstone. Ihnen ging es immer um das Erbe des Silbernen Sinnes. Sie wussten, bei irgendjemandem in Hanussens Geschlecht musste er wieder zu Tage treten. Erst haben sie deinen Vater nach Jonestown gelockt, um in der Abgeschiedenheit des Dschungels Gewalt über ihn zu gewinnen. Und jetzt wollen sie dich.«
Yeremi schüttelte den Kopf. »Aber du und dein Volk… Ihr seid doch die Silbernen!«
»Ja, und das war unser Verhängnis. Leary hat meine Schwestern und Brüder immer wieder nach Pflanzensäften befragt, die unseren Fühlsinn ›beflügeln‹ – er benutzte dasselbe Wort wie dein Urgroßvater. Hätten wir ihm gegeben, wonach er suchte, dann wäre er vermutlich mit dir davongezogen, hätte deinen Willen gebrochen und dir zum Schluss die Droge verabreicht, damit du für ihn und seine Herren jeden Menschen manipulierst, über den sie Gewalt ausüben wollen.«
Mit einem Mal fiel es Yeremi wie Schuppen von den Augen. Sie schüttelte immer wieder den Kopf, als könnte sie das Unleugbare dadurch zum Verschwinden bringen. Düster vor sich hinblickend, murmelte sie: »Damals, als ich mit McFarell in seinem Büro über den Sinn und Zweck der Suche nach den Weißen Göttern diskutiert habe, sagte er: ›Ich will Sie keineswegs nach Süd-Guyana schicken, um Sie von Ihrem Forschungsschwerpunkt abzuziehen, sondern gerade weil Sie mit Ihren speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten die ideale Besetzung dafür sind.‹« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte weiter den Kopf. Fredrika lief um das Sofa herum, ließ sich vor ihr auf den Boden nieder und streichelte tröstend ihre Beine.
Saraf fühlte sich durch Yeremis Erinnerung bestätigt. »Als er von deinen Fähigkeiten sprach, meinte er die in dir schlummernde Gabe.
Wahrscheinlich hat Jefferson Flatstone ihn darauf aufmerksam gemacht.«
Yeremi richtete sich abrupt auf und legte den Nacken auf die Lehne, um Saraf ansehen zu können. »Anscheinend wussten alle davon, nur ich nicht.«
»Ja, weil dein Fühlsinn zugeschüttet war. Als kleines Kind hast du Furchtbares erlebt und danach keinem Gefühl mehr getraut, weil du ja fürchten musstest, wieder verletzt zu werden. Aber mit deiner Rückkehr in den Dschungel ist der Silberne Sinn in dir wieder erwacht. Erinnerst du dich noch, als ich mit euch auf die Reise ging und dich am ersten Tag lange vor Sonnenuntergang darum bat, das Nachtlager aufzuschlagen? Meine Wunden waren noch nicht verheilt, und mir fehlte die Ausdauer. Erst gefiel dir mein Vorschlag überhaupt nicht, aber dann entschuldigtest du dich mit einem Mal, weil du mir zu viel abverlangt habest.«
Yeremi nickte. »Ich habe gespürt, wie es dir ging, aber suchte rationale Erklärungen für dieses Gefühl.«
»Später hat sich der Silberne Sinn in dir immer wieder bemerkbar gemacht.«
»Ich muss blind gewesen sein. Dabei war es so offensichtlich, dass sogar Al an meine Gabe glaubte. Als wir auf dem Dach darüber stritten, ob es so etwas wie den Silbernen Sinn überhaupt gebe, beschwor er mich geradezu: ›Spürst du das denn nicht?‹ Ich hielt ihn für übergeschnappt, fragte ihn blauäugig, was ich denn fühlen solle. Selbst als er darauf erwiderte, er beginne allmählich an mir zu zweifeln, habe ich nicht begriffen, worüber er in Wirklichkeit sprach.«
Sarafs Hand strich behutsam eine blonde Strähne aus Yeremis Stirn. Er lächelte. »Wissen ohne Selbsterkenntnis ist wie ein ungeschliffener Edelstein – die wahre Schönheit kann sich nicht entfalten. Ich hatte gehofft, du würdest eines Tages zu dieser Einsicht gelangen, Jerry. Als ich in dein Zelt kam, tat ich es auch wegen deines Fühlsinnes. Ich spürte, was in dir vor sich ging. Vor langer Zeit wurde dir im Dschungel eine bedrückende Bürde auferlegt. Du wolltest sie dorthin zurücktragen, um dich endlich in jene Frau zu verwandeln, die zu werden man dir als Kind verwehrt hatte.«
»Das scheint mir nicht besonders gut gelungen zu sein.«
Saraf schüttelte den Kopf, lief nun seinerseits um das Sitzmöbel herum und ging neben Fredrika vor Yeremi auf die Knie. Carl und Ed, die jede seiner Bewegungen verfolgten, würdigte er keines Blickes. Stattdessen umschloss er ihre zitternden, kalten Finger mit seinen großen, warmen Händen und blickte
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