Der silberne Sinn
Handschrift Hanussens. Er musste die Zeilen in großer Eile aufs Papier geworfen haben. In dem Schreiben wiederholte er seine Absicht, Berlin in drei Tagen zu verlassen. Er hoffe, Rose sei gesund in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und er werde sie in Bälde Wiedersehen. Allerdings beschleiche ihn eine böse Ahnung. Doktor Baecker – Rose müsse sich an diesen unangenehmen Menschen erinnern, da sie ihm im Palast des Okkultismus begegnet sei – treibe ein doppeltes Spiel. Endlich habe er, Hanussen, die Gewissheit erlangt. Der Verrat Baeckers sei mehr als die für Nazis übliche Speichelleckerei, er übersteige sogar die Impertinenz seines Erzrivalen Erich Juhn, der jahrzehntelang einen privaten Kreuzzug gegen ihn geführt habe. Hanussen bezog sich nun auf seinen Privatsekretär Dzino, einen ehemaligen Detektiv und »gewieften Schnüffler«. Dzino habe in Erfahrung gebracht, dass Baecker mit den Amerikanern in Verbindung getreten sei, um ihnen das gleiche Angebot zu unterbreiten, jedoch zu einem Schleuderpreis. Vermutlich wolle er sie nur mit gefälschten Informationen in die Irre führen, während er in Wirklichkeit die Spuren der Wahrheit zu verwischen suche, mutmaßte Yeremis Urgroßvater.
Der Rest des Briefes ergab keine neuen Anhaltspunkte. Yeremi legte ihn zur Seite und hielt den Atem an.
»Das ist…!« Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die zwei vergilbten, doppelt gefalteten Blätter.
»Eine Zeitung«, sagte Fredrikas Stimme in ihrem Rücken.
»Nicht irgendeine. Seht doch hier!« Yeremi deutete erregt auf die Zahl im Kopf des Titelblattes. »Das ist die verschollene Nummer 26 der Hanussen-Zeitung. Ich habe euch doch von diesem Deutschen erzählt, Wilfried Kugel. Er sagte, diese Ausgabe sei als Einzige in keinem Archiv mehr zu finden, und vermutet, jemand habe sie bewusst aus dem Verkehr gezogen.«
»Und warum?«, fragte Ed.
»Einige Historiker sind der Meinung, die Nazis hätten alle Exemplare vernichtet, weil darin Hanussens großes Hitler-Horoskop stand und man sich später von dem jüdischen Hellseher habe distanzieren wollen. Aber schaut hier.« Yeremi entfaltete das zweite Blatt. »Warum hat Uroma Rose ausgerechnet das da aufgehoben?«
»Was ist das? Ich kann’s von hier so schlecht erkennen«, sagte Fredrika.
»Ein schon lange angekündigter Bericht über Hanussens Experimente mit Telepathin. Das ist ein Halluzinogen, von dem er sich viel versprochen hat. Wartet…«
Sie beugte sich über das Blatt und las in Windeseile den Artikel. Als Yeremi sich wieder aufrichtete, war sie verwirrt. Sollte sie nun enttäuscht oder erleichtert sein?
»Was steht da drin?«, fragte Carl.
»Hanussen schreibt: ›Die Droge verfügt zwar über gewisse bewusstseinserweiternde Eigenschaften, die für das Hellsehen und die telepathische Sensibilität hilfreich sind, sie taugt aber nicht dazu, einem unbegabten Medium diese wünschenswerten Fähigkeiten einzuhauchen.‹«
Mit dem Zeigefinger folgte Yeremi einer Zeile in dem Artikel. »Hier nimmt er auf Joe Labero Bezug. Hanussen ist vor dem Ersten Weltkrieg, wie ich in Kugels Buch gelesen habe, bei diesem so genannten ›Experimental-Psychologen‹ in die Lehre gegangen, um das Muskellesen zu erlernen. Jedenfalls behauptete Labero, Frauen seien als Medium im Allgemeinen besser geeignet; ganz unbrauchbar wären korpulente Männer. Hanussen zitiert hier offenbar seinen Lehrmeister, um eine grundsätzliche Schwierigkeit in Verbindung mit der Telepathie zu erläutern. Wörtlich schreibt er: ›Jeder Mensch ist ein Medium, kann ein Medium sein, aber nicht jeder Mensch will ein Medium sein.‹ Nur wer die erbliche Prädisposition für das Gedankenlesen oder die Suggestion besitzt, behauptet er dann, kann durch das Telepathin zu höherer Leistung beflügelt werden.«
Yeremi hob den Blick und sah ihren Großvater verwirrt an. »Was bedeutet das?« Mit der Frage wollte sie eher ihrer Beunruhigung Ausdruck verleihen, denn die Worte hatte sie durchaus verstanden. Die Antwort kam von Saraf.
»Weißt du es nach den vergangenen fünf Tagen etwa immer noch nicht, Jerry? Oder willst du es dir nicht eingestehen? Dein Urgroßvater hatte vielleicht nur eine Ahnung vom Silbernen Sinn, aber er erkannte einen Teil seines Wesens: Der Fühlsinn wird durch Vererbung weitergegeben.«
»Und kann durch Drogen ›beflügelt‹ werden?« Yeremi starrte fassungslos vor sich hin. »Und ich bin die Urenkelin dieses Mannes. Das bedeutet…« Sie schüttelte den Kopf.
Saraf legte ihr
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