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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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über das ich immer wieder nachdenken muss: Die Vereinigten Staaten könnten den Verfall jeglicher Ordnung in einem Staat, der immer noch ein stattliches Atomarsenal hat, nicht ewig dulden. Ungefähr das waren seine Worte.«
    »Mein Gott!« Dieser Ausruf kam von Ed.
    »Woran denkst du?«, fragte Yeremi.
    »Sie wollen einen Krieg anzetteln.«
    »Wer? Die Russen?«
    »Nicht doch! Flatstone und wer immer hinter ihm steht. Er könnte durch die empathische Telepathie eine Situation heraufbeschwören, die dem Weißen Haus keine andere Chance lässt, als in Russland einzumarschieren.«
    »Bist du verrückt?«, entfuhr es Carl. »Präsident Putin hat den Kalten Krieg vor vier Jahren in Rom für beendet erklärt.«
    Ed erinnerte ihn an die Realitäten. »Damals glaubten viele Optimisten, Russland werde die Mafia, Korruption und Terroristen in den Griff bekommen. Aber spätestens seit dem Vorfall in Murmansk wissen wir, was aus solchen Hoffnungen geworden ist. Das Land als atomares Pulverfass zu bezeichnen dürfte nicht übertrieben sein.«
    Yeremi nickte langsam. Schon bei dem Gedanken an das von Ed gezeichnete Bild sträubten sich ihr die Haare. Aber es war weit mehr als ein verrücktes Gedankenspiel. Eine wirtschaftlich, militärisch und politisch angeschlagene Nation wie Russland könnte Begehrlichkeiten bei einigen einflussreichen Personen der letzten verbliebenen Supermacht der Erde wecken. Nach einem siegreichen Krieg gegen den Terrorismus in Russland – getreu dem afghanischen Vorbild – wäre der Einfluss Amerikas auf Jahrzehnte hinaus weltweit unangefochten. Und nebenbei könnten sich nicht nur die US-Rüstungskonzerne eine goldene Nase verdienen.
    Ein Punkt blieb in Eds Gedankenspiel jedoch offen, und dieses Problem gärte in Yeremis Innerem. Sie war ja nur eine einzelne Person, eine Frau mit einem gewissen Talent für die Empathie. Welche Rolle, das fragte sie sich, hatte man ihr in diesem unfassbaren Drehbuch zugedacht?
     
     
    Sie war zu aufgewühlt, um schlafen zu können, und Saraf ging es ähnlich. Yeremi musste immer wieder an die Gefahr denken, in der sie beide schwebten. Dann wiederum fragte sie sich, was schon das Leben zweier Menschen im Vergleich von so vielen wog, die bei einem Krieg in Russland ausgelöscht werden könnten. Würden es Ed, Carl, die Senatorin Tailor, Ken Frielander und all die anderen besorgten Mitmenschen schaffen, Flatstone zur Strecke zu bringen? Nachdem sie sich gerade erst dazu durchgerungen hatte, ihr altes Leben wie ein ausgedientes Kleid im Tausch gegen ein neues im Garten Gottes einzutauschen, geriet sie erneut ins Schwanken. Es würde sich wohl nicht vermeiden lassen, noch einmal in die angeblich so zivilisierte Welt zurückzukehren, um den Drachen zu töten, der aller Menschen Glück und Frieden bedrohte.
    »In vier Tagen wird der Vollmond am Himmel stehen.«
    Sarafs leise Worte rissen Yeremi aus den Gedanken. Sie hatten sich mit Taschenlampen einen Weg zum Fluss gesucht und saßen dort, von dicken Wollpullovern und einer Decke gewärmt, auf einem Stein, der von gurgelndem Wasser umspült wurde. Yeremi blickte in sein Gesicht. Es leuchtete silbern im Licht der Himmelslaterne.
    »Bis dahin wirst du in Sicherheit sein.«
    »Das spielt keine Rolle.«
    »Für mich schon.«
    Er streichelte ihre Wange und lächelte. »Nach Famas Tod dachte ich, mein Herz hätte sich in einen Stein verwandelt. Doch heute lebt es wieder. Das habe ich dir zu verdanken, Jerry.«
    Sie musste mehrmals heftig schlucken, bevor sie mit einigermaßen fester Stimme erwidern konnte: »Und trotzdem wünschte ich, es wäre anders gekommen. Ich habe Al Leary zu deinem Volk geführt, obwohl ich ihm nicht traute.«
    »Du trägst keine Schuld am Tod meiner Schwestern und Brüder«, wiederholte Saraf wohl schon zum hundertsten Mal. »Es war Jefferson Flatstone und sein Meister, Sam Iceberg, die uns fürchteten. Sie wollten einen kontrollierbaren Fühlsinn, aber nicht einen, der gegen sie verwendet werden kann. Deshalb haben sie mein Volk getötet, als sie sich seines Wissens sicher wähnten.«
    »Wenn man es so betrachtet, bin ich über die Vernichtung der Azofa sogar froh.« Sie blickte zu den Sternen empor. Das Gespräch in der Hütte hing ihr noch immer nach. »Glaubst du, Saraf, jemand könnte einen Menschen so manipulieren, dass er heute mein Verbündeter ist und sich morgen als Selbstmordattentäter gegen mich wendet?«
    »Ein Gefühl vermag ein anderes zu überlagern, so wie Hunger den Ekel verdecken kann:

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