Der silberne Sinn
Widerspruch geschürt hatte. Sie blickte wieder zur Fragestellerin und antwortete heiser: »Das ist richtig.«
»Du sprichst von heute«, eroberte sich Jones das Wort zurück. »Das genau ist es, was heute zwanzig Leute über ihr Leben gesagt haben.«
Trotzig sprang Rachel von ihrem Stuhl auf. »Ich denke, ich habe dennoch das Recht auf eine eigene Meinung.«
Jones hob beschwichtigend die Hände und erwiderte mit einem wölfischen Lächeln: »Ich will sie dir nicht nehmen. Ich will sie dir nicht nehmen.«
Überraschenderweise meldete sich hinter der eigensinnigen Frau unvermittelt Eugene Smith zu Wort: »Christine«, sagte er, als hätte er sie nie anders genannt – seine Rechte deutete auf den Reverend –, »du bist allein deshalb unter uns, weil er hier die erste Stelle einnimmt. Daher weiß ich nicht, was du uns über ein ›eigenes Leben‹ erzählen willst. Sieh es einmal so: Dein Leben ist wegen ihm bis zu dem Tag, da du hier vor uns stehst, verlängert worden.«
Rachel blickte in Eugenes wimpernlose Knopfaugen. Sein Gesicht zeigte weder Anteilnahme noch Hass, nur eine gleichgültige Kälte, die ihr Herz gefrieren ließ. In diesem Moment wusste sie, was seine letzten Worte bedeuteten: Dank der Gnade des Reverend hatte sie ihr Leben bis zum heutigen Tag verlängern dürfen.
Aber nun war ihr Ende beschlossen.
Als zwischen den Bodenbrettern immer weniger Tageslicht zu Jerry herabdrang, wurde die Furcht übermächtig. Was, wenn Mama und Papa sich verspäteten? Oder wenn sie nie mehr zurückkehrten? Jerry lauschte. Abgesehen von dem Ächzen und Knarren, mit dem das Haus auf den zunehmend heftiger tobenden tropischen Sturm reagierte, war nichts zu hören.
Keinen Mucks!
Sie konnte die letzten Worte ihrer Mutter nicht vergessen. Wenn es dunkel wird und sich immer noch nichts rührt, dann darf ich mein Versteck verlassen – das hatte sie gesagt. Jerry stemmte vorsichtig eine Diele hoch, hob den Kopf gerade weit genug, um den Fußboden des Schlafzimmers überblicken zu können. Die Tür zum Nebenraum stand noch offen. Im Haus bewegte sich nichts.
So leise wie möglich entfernte sie die Dielen und kletterte aus ihrem Nest. Was nun? In den Dschungel laufen und sich dort verstecken, bis Hilfe kommt? Was ihre Mutter damit gemeint hatte, verstand Jerry noch immer nicht. Sie zog einen Stuhl vor das Schlafzimmerfenster und kletterte hinauf.
In der Nachbarhütte, kaum zehn Meter entfernt, brannte Licht. Es war das East Guest House, in dem, wie der Name erkennen ließ, Gäste beherbergt wurden. Jerry vernahm jetzt sogar leise Stimmen. Sie kamen von der Hütte dahinter, wo sie Johnson und Pauncho entdeckte. Die beiden Afroamerikaner traten gerade ins Freie und schleppten zu zweit eine längliche Kiste. Jeder hatte eine Flinte über der Schulter hängen. Als sie den Kasten vor dem Haus abstellten und öffneten, traute das Mädchen seinen Augen nicht.
Lauter Gewehre!
Wozu brauchten die beiden so viele Waffen? Eine Bewegung in unmittelbarer Nähe ließ Jerrys Blick zum Gästehaus zurückkehren. Da näherten sich zwei weiße und ein riesiger schwarzer Mann – an den Namen des Hünen erinnerte sie sich nicht mehr, aber er gehörte auch zur Kirche und war erst vor zwei Tagen aus San Francisco herübergekommen. Die beiden anderen hatte sie zuletzt beim gelben Truck gesehen, es waren die Anwälte des Reverend. Alle drei gingen in das Haus. Nach kurzer Zeit trat der Riese allein wieder heraus und verschwand in Richtung Pavillon.
Jerry überlegte, was sie tun sollte. War dies die Stille, die ihre Mutter gemeint hatte? Sie konnte sich nicht entsinnen, in der Siedlung jemals weniger Geräusche gehört zu haben. Vermutlich war ganz Jonestown in der Versammlungshalle. Warum haben Mama und Papa mich diesmal nicht mitgenommen?, grübelte das Mädchen. Hatte es mit der Angst zu tun, die seine Eltern seit dem Nachmittag spürten?
Jerry beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Um nicht am Eingang von Johnson und Pauncho entdeckt zu werden, kletterte sie auf die Fensterbank und sprang in den Matsch. Inzwischen war die Dämmerung weit fortgeschritten, und so bemerkte niemand, dass sie schnell zur Längsseite des Gästehauses hinüberlief und sich unter das Fenster kauerte. Gerade rechtzeitig, denn in diesem Moment wurde es geöffnet, und eine leise Stimme drang aus dem Haus.
»Was ist los, Charly?«
»Nichts, Alan. Dachte, ich hätte ein Geräusch gehört.«
»Wir befinden uns hier im Dschungel, Kollege. Der ist
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