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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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brachte. Er drehte den Kopf, runzelte die Stirn. »Ja, Christine?«
    »Ist es zu spät für Russland?«
    Das war ein Themenwechsel, mit dem er nicht gerechnet hatte. Unter den Anwesenden verbreitete sich gespanntes Gemurmel. Russland! Der sowjetische Botschafter Feodor Timofeyev hatte der Siedlung erst vor wenigen Wochen einen Besuch abgestattet und sie, vom Agrarprojekt sichtlich angetan, mit viel versprechenden Worten wieder verlassen. Daraufhin waren Klassen für russischen Sprachunterricht eingerichtet worden. Ja, Russland war ein Hoffnungsschimmer, zumindest, wenn man die Alternativen bedachte.
    Jones nahm Rachels Einwurf mit einer gewissen Unlust auf, versuchte aber freundlich zu klingen. Es gebe einen einfachen Grund, weshalb es zu spät für Russland sei: »Sie haben begonnen zu töten.« Außerdem könne er diese Leute nicht kontrollieren. »Sie sind da draußen. Sie sind mit den Waffen losgezogen.« Auch deshalb sei es zu spät. Mit erstickter Stimme beklagte er die Messerattacke von Don Sly. Aber was irgendeiner seiner Leute tue, das habe er selbst getan. Er werde Ujara nicht ausliefern. Und wenn es das Leben koste…
    »Nein! Nein!«, schrien die Leute im Pavillon; niemand verlangte eine schlüssige Antwort auf Rachels Frage. Stattdessen wollte einer der Gläubigen hinausgehen, um für den Volkstempel zu streiten. Rachel kannte derlei Loyalitätsbekundungen. Bei einer früheren Gelegenheit hatten einige Senioren sich sogar erboten, mit umgeschnallten Bomben in Gebäude der US-Regierung zu spazieren. Wie damals wies Jones auch jetzt das freundliche Angebot zurück. »Du gehst nicht, du gehst nicht«, wiederholte er müde, und die Menge rief dazu ihr emphatisches »Nein! Nein!«.
    »Nicht gehen«, murmelte Jones noch einmal, als fehle ihm bereits die Kraft, um vollständige Sätze zu bilden. »Ich kann nicht auf diese Weise leben. Nicht so. Ich habe für alle gelebt, und ich sterbe für alle…«
    Für dieses Versprechen erntete der Reverend Applaus, was ihn dazu anspornte, seine Hingabe noch anschaulicher zu machen. An Rachel gewandt, zeterte er: »Ich habe lange Zeit das Beste erhofft, Christine, und ich schätze… Du bist mir immer eine gute Fürsprecherin gewesen. Ich schätze das, weil du beide Seiten ein und derselben Sache gesehen hast, beide Seiten der Frage. Was werden diese Leute tun, wenn sie damit durchkommen? Sie machen unser Leben schlimmer als die Hölle, sie werden die Russen dazu bringen, uns zurückzuweisen. Wenn sie mit ihren Lügen durchkommen…« Er schüttelte verzweifelt sein schweres Haupt. »Sie haben so viele Lügen verbreitet, dass wir so gut wie keine andere Alternative mehr haben.«
    Am liebsten hätte Rachel mit dem Fuß aufgestampft. Sie konnte sich kaum noch auf dem Stuhl halten, so sehr regte sie dieses Es-gibt-kein-Zurück-Gerede auf. »Gut«, erwiderte sie, mühsam auf einen ruhigen Ton bedacht, »ich sage, lasst uns die Luftbrücke nach Russland schlagen, das ist es, was ich sage. Ich denke, nichts ist unmöglich, wenn du daran glaubst.«
    »Aber wie können wir… Wie willst du über eine Luftbrücke nach Russland gelangen?«
    Hatte Jones wieder Drogen genommen? Das Sprechen wollte ihm kaum noch gelingen, nur zum Sterben schien er noch Kraft zu haben. Sie bäumte sich auf gegen den Sog der von ihm verbreiteten Gefühle. »Ich dachte, sie hätten uns einen Code gegeben, damit wir uns im Notfall mit ihnen in Verbindung setzen können.«
    Jones redete um den heißen Brei herum. Nein, einen solchen Code gebe es nicht, aber wenn sie unbedingt wolle, dann könne sie ja mit den Russen Kontakt aufnehmen und klären, ob man geneigt sei, alle sofort hier herauszuschaffen. »Andernfalls sterben wir. Ich weiß nicht, was du diesen Leuten noch erzählen willst. Aber für mich ist der Tod nicht… Der Tod ist keine Furcht erregende Sache, das Leben dagegen ist verräterisch.«
    Die Gläubigen applaudierten. Rachel kämpfte gegen das unbändige Verlangen an, sich die Ohren zuzuhalten und einfach davonzulaufen. Aber das wäre unklug gewesen. Jerry lag zu Hause unter dem Fußboden, und sie hatte versprochen, zu ihr zurückzukehren. Sie musste diesem Wahnsinnigen Paroli bieten, der ihr und allen anderen weismachen wollte, es hätte »keinen Wert mehr, so weiterzuleben«.
    »Ich denke«, sagte Rachel mühsam beherrscht, »dass uns zu wenige verlassen haben, um dafür das Leben von zwölfhundert Leuten zu opfern.«
    »Weißt du, wie viele gegangen sind?«
    »Oh, zwanzig oder ein paar

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