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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mehr. Das ist… Das ist wenig.«
    »Zwanzig oder ein paar mehr, zwanzig oder…«
    »Verglichen mit dem, was hier…« Rachel machte eine Geste, die den ganzen Saal umfasste.
    Jones schüttelte schwermütig den Kopf. Er lamentierte über das, was war, und das, was sein könnte, wenn das Flugzeug nicht abstürzen würde. Rachel konnte sagen, was sie wollte, er fand immer eine Antwort, die ihn ein wenig näher an sein großes Ziel brachte. Er beklagte seine Müdigkeit, weil er schon zu lange das Leben so vieler Menschen in Händen gehalten habe. Dann gib deinen Thron doch endlich frei!, schrie Rachel in Gedanken und hörte den Reverend seufzen: »Ohne mich hat das Leben keine Bedeutung.« Ausgehend von dieser fundamentalen Feststellung, lenkte er den Disput wieder auf seine eigentliche Leidenschaft. Während er die Arme ausbreitete und seine – mehr oder weniger – Getreuen mit Blicken in die Pflicht nahm, verkündete er: »Ihr seid der Rat für den revolutionären Selbstmord. Ich rede nicht über Selbst… Selbstzerstörung. Ich spreche davon, dass es für uns keinen anderen Weg gibt. Wir werden es den Russen mitteilen, und ich kann dir jetzt schon ihre Antwort geben, weil ich ein Prophet bin. Rufe die Russen und sage es ihnen, und schau, ob sie uns holen werden.«
    Verunsichert suchte Rachel die dunklen Brillengläser des Reverend mit Blicken zu durchdringen. Aber sie konnte seine Augen nur andeutungsweise erkennen. Meinte er dieses Angebot wirklich ernst? Sie räusperte sich. »Nicht, dass ich Angst hätte zu sterben…«
    »Das glaube ich auch nicht…«
    Rachel zögerte. Was ging hinter der Stirn dieses von Todessehnsucht erfüllten Menschen vor? Stellte er ihr eine Falle. »Auf keinen Fall…«
    »Ich denke nicht, dass du Angst hast…« Jones hob auf eine ganz spezielle Weise die Hand, und hinter ihm erschien ein dunkler Schatten.
    Rachel erstarrte zu Eis. Es war Eugene Smith, der da auf den Wink seines Meisters herbeigeeilt war wie ein diensteifriger Adept. Und Lars? Sie blickte sich um, konnte ihren Mann jedoch nirgends entdecken. Was hatte das zu bedeuten? Es wurde Zeit, sich auf elegante Weise zu verabschieden. Nicht sofort einlenken, mahnte sich Rachel zur Besonnenheit. Das würde auffallen…
    Sie wandte den Blick zurück zur spiegelnden Brille des Reverend, sammelte sich und sagte: »Aber ich sehe da die Kinderchen, und ich denke, sie verdienen es zu leben.«
    »Da stimme ich dir zu.«
    »Du weißt…«
    »Aber sie verdienen auch…«, unterbrach sie der Reverend, gönnte sich zur Hebung der Aufmerksamkeit eine wohl bemessene Pause und fuhr dann fort: »Was mehr verdienen sie als Frieden!«
    Rachel starrte Jones an wie das Kaninchen die Schlange. Sie ahnte, welche Art von Frieden er meinte. »Wir sind hierher gekommen, um in Frieden zu leben.«
    »Und haben wir ihn gefunden?«
    »Nein!«, rief der Chor der Zuhörer.
    »Nein«, wiederholte Rachel leise, um sich hiernach aus Jones’ Munde anhören zu müssen, er habe praktisch seit langem schon sein Leben für den Frieden der Gemeinschaft niedergelegt, mit jedem Tag ein wenig mehr. Rachel beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Eugene sich langsam auf sie zubewegte. Ihr Widerstand erlahmte, da Jones ihr Aufbegehren einfach ins Leere laufen ließ, ihr mit leidendem Blick zustimmte, als sie für jeden Einzelnen die Freiheit auf Selbstbestimmung forderte. Ihre Gedanken waren bei Jerry und Lars, was ihr die Kraft gab, sich erneut gegen den alles verzehrenden Strudel der Selbstzerstörung aufzubäumen und ein für alle Mal die Besitzverhältnisse an ihrem Leben klarzustellen.
    »Und ich denke, ich habe das Recht, meines zu wählen, und jeder andere das seine.«
    »Hm, hm«, machte Jones.
    »Du weißt…«
    »Hm, hm. Ich kritisiere dich nicht. Nicht ich bestimme… Was war das?«
    Jemand aus den hinteren Sitzreihen hatte etwas gerufen. Jetzt erhob sich eine Frau und wiederholte mit fester Stimme: »Sie redet, als wollte sie uns verlassen. Lass sie fortfahren.« Direkt an Rachel gewandt, fügte sie hinzu: »Ich finde es wichtig, auch einmal von einem führenden Mitglied der Gemeinde zu hören, dass wir ein ›eigenes Leben‹ haben. Das ist es doch, was du sagen wolltest, oder?«
    Rachel glaubte, die Körperwärme des jetzt hinter ihr stehenden Eugene zu spüren. Verunsichert sah sie zum Reverend hinüber, dessen Stirn tiefe Furchen aufwies. Was aus den Reihen der Gläubigen zu hören war, klang verdächtig nach Meuterei. Und sie war diejenige, die diesen

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