Der silberne Sinn
ersten.
»Keinen wissenschaftlichen Disput!«, mahnte Flatstone. Yeremi und Saraf drehten sich zu ihm um. »Was ist Vilcapampa oder -bamba oder… Um welchen Ort geht es hier eigentlich?«
Professor McFarell verdrehte die Augen und sagte: »Vilcabamba galt lange als sagenumwobene Stadt, weil die Spanier sie nie fanden. Manco Inca hat Mitte des sechzehnten Jahrhunderts von dort aus einen verzweifelten Guerillakrieg gegen die Konquistadoren geführt. Erst 1911 ist es Hiram Bingham, einem Landsmann von uns, gelungen, die geheimnisvolle letzte Hauptstadt der Inka zu entdecken. Wenigstens glaubten das viele in der Wissenschaftsgemeinde, aber es war…«
»Machu Picchu«, sagte Yeremi und kehrte damit wieder dorthin zurück, wo man sie zuvor unterbrochen hatte. »Wir gehen heute davon aus, dass Vilcabamba weiter westlich von dem Ort liegt, den Saraf uns gezeigt hat.«
»Fünfundfünfzig Meilen sind ziemlich viel, wenn man jeden Grashalm umdrehen muss«, sagte Flatstone drohend. Und während er auf Machu Picchu deutete, fragte er Saraf: »Sind Sie sicher? Der Schatz liegt dort?«
Sarafs Finger spielten mit den Perlen seiner Kette, während er nickte und noch einmal bekräftigte: »Vilcapampa ist genau da, wo ich es Ihnen gezeigt habe. Dort müssen wir suchen.«
Wäre es nach McFarell und Flatstone gegangen, hätten Yeremi und Saraf schon eine Stunde später in einem Jet nach Peru gesessen. Aber nachdem man einen Arzt hinzugezogen hatte, wurde dem Silbermann noch eine Schonfrist von zwei vollen Tagen zugestanden.
Als Lars das Abendbrot servierte, klärte Yeremi ihn über den Stand der Dinge auf. Sie war untröstlich, sich so schnell wieder von ihrem Vater verabschieden zu müssen. Während sich McFarell und Flatstone in den folgenden zwei Tagen kein einziges Mal blicken ließen – irgendetwas schien ihre volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen –, nutzten Yeremi und Lars jede Mahlzeit, um ihre vor siebenundzwanzig Jahren abgerissene Beziehung zu erneuern. Dreimal täglich durfte der vermeintlich Schwachsinnige die Gefangenen mit Essen versorgen, insgesamt achtmal noch sahen sich Vater und Tochter nach dem Treffen mit Flatstone.
Am Abend vor der Abreise drückte und küsste Yeremi ihren Vater unter Tränen. Sie versprach, ihn zu retten. Aber sie spürte Beklommenheit, fürchtete sie doch, die bevorstehende Reise selbst nicht zu überleben.
Bevor er die Zellentür wieder zusperrte, erklärte Lars: »Morgen kann ich… werde ich vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu haben, dir das zu sagen: Ich liebe dich, Jerry. So lange dachte ich… Liebe war mir fremd geworden. Heute habe ich nachgedacht und… und da ist mir etwas eingefallen, das euch vielleicht helfen könnte… Nur eine Kleinigkeit… Vielleicht ist es auch unwichtig…«
Yeremi sah gespannt Saraf an, der in seinem Feldbett lag, dann wieder ihren Vater. »Ich liebe dich auch, Papa, von ganzem Herzen, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als in Zukunft noch viel Zeit mit dir zu verbringen. Doch was wolltest du uns sagen?«
»Eugene, der Mann, von dem ihr sagt, sein Name lautet Flatstone…«
»Ja?«
»Er ist auf dem linken Auge fast blind. Deshalb… Dafür gibt er dir die Schuld, Jerry. Er hasst dich, wie man einen Menschen nur hassen kann.«
»Danke, Lars Bellman«, sagte Saraf, während Yeremi noch darüber nachdachte, was diese Information bedeutete.
Der Augenblick des Abschieds war gekommen, und sie drängte alles in den Hintergrund. Sie musste ihren Vater noch einmal küssen, ihn so fest umarmen, wie sie es vielleicht nie wieder würde tun können – für die Sorgen blieb noch genug Zeit.
Bevor Lars die Zellentür verriegelte, schenkte er den beiden Gefangenen ein letztes Lächeln.
Erschrocken fuhr Yeremi von ihrem Kopfkissen hoch und lauschte. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Sekundenlang wusste sie nicht, wo sie sich befand, bis sie die kühle, trockene Luft in der Zelle spürte und sich wieder ihrer trostlosen Lage bewusst wurde. Ein Geräusch musste sie geweckt haben. Vielleicht ihr Vater, der ihr doch noch einen heimlichen Besuch abstattete?
Dann hörte sie es wieder: Klappern, Stimmen, Schritte, die sich der Zellentür näherten. Ein Schlüssel malträtierte das Schloss, Riegel flogen zur Seite, und eine Horde von weiß gekleideten Männern stürmte herein. Für einen Moment sah Yeremi das ausdruckslose Gesicht von Feraru Madalin. Schon drückten sie starke Hände auf das Bett zurück. Sie stemmte sich dagegen an, ihr
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