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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Sofort waren die Passagiere umgestiegen und hatten ihre Reise zur etwa siebzig Meilen nordöstlich gelegenen Inkastadt fortgesetzt. Kein Einreisebeamter fragte nach Papieren, kein Zöllner interessierte sich für das Gepäck der Reisenden – Flatstone musste über weit reichende Kontakte verfügen.
    In Machu Picchu hatte Yeremi vor Jahren zum ersten Mal gefühlt, was die Inka unter Schönheit und Heiligkeit verstanden. Auch vom technischen Geschick ihrer Erbauer kündete immer noch die »hohe Stadt der steinernen Stufen« – wie der chilenische Dichter Pablo Neruda sie einst nannte. Mit unermesslichem Aufwand hatten die alten Baumeister ihr Refugium zwischen zwei Berggipfeln angelegt, ein Juwel in einer königlichen Krone. Gleich der Fassung eines meisterlichen Goldschmiedes hielten es massive Stützmauern und Terrassen dort oben nun schon seit mehr als einem halben Jahrtausend.
    Das Tal des Urubamba lag sechshundert Meter weiter unten. Wer dort dem Flusslauf folgte, konnte nicht ahnen, was sich jenseits der steil aufragenden Felswände hoch über ihm befand. Die Aura des Geheimnisvollen wurde noch von den großen Wolkenfetzen unterstrichen, in die sich die Stadt zu hüllen pflegte wie in einen tarnenden Umhang. Auch jetzt umwaberten Wolken die kahlen Ruinen, die sich auf Terrassen beiderseits eines lang gezogenen, zentralen Platzes gruppierten. Er bestand ebenfalls aus mehreren Ebenen, weshalb Leary nicht sofort einen sicheren Landeplatz fand, der ausreichend groß, aber auch weit genug von den Häusern entfernt war.
    Die Sonne verschwand gerade hinter den Bergrücken im Westen, als der ehemalige Navy-Pilot eine geeignete Stelle gefunden hatte. Yeremi spürte einen Ruck durch den sechssitzigen Helikopter gehen. Unter ihr tauchte El Torreon hinweg, ein wuchtiger Rundturm, der den Inka einst als Observatorium gedient haben dürfte. Yeremi erblickte mehrere Steinhäuser, die um Innenhöfe herum angeordnet waren; ohne ihre Strohdächer wirkten sie wie die Skelette längst ausgestorbener Schalentiere. Im nächsten Moment gähnte ein Schwindel erregender Abgrund unter ihr. Bei früheren Besuchen hatte sie die huacas im näheren Umkreis erforscht, heilige Stätten, die allerdings den Untergang Machu Picchus nicht hatten verhindern können, auch wenn die Inka ihnen übernatürliche Kräfte zusprachen. Sollte nun ein weiteres tragisches Kapitel in der Geschichte dieser »Stadt in den Wolken« geschrieben werden?
    Die Maschine flog in einer Schleife von Westen her auf den Zentralplatz zu. Dabei musste sie das Intihuatana überqueren, den »Sitz der Sonne«, einen pyramidenförmig behauenen Steinblock, der den höchsten Punkt der Anlage bildet. Leary ließ sein Fluggerät vor dem Sonnenthron aufsteigen und danach sogleich wieder absacken. Er steuerte direkt auf eine Art Stufenpyramide in der Mitte des Platzes zu, die wie eine Faust einen oben spitz zulaufenden Felsen umschloss. Knapp zwanzig Meter nordwestlich davon reckte der Hubschrauber seine Nase nach oben, verharrte einen Moment und senkte sich dann langsam nach unten. Bald berührte das Fahrwerk den grünen Rasen und gab unter dem Gewicht des Helikopters nach. Das Dröhnen des Motors erstarb.
    Yeremi erblickte eine Geisterstadt. An diesem Tag, so vermutete sie, waren die Touristen schon früh vom Berg verbannt worden. Schließlich konnte Flatstone keine Zeugen gebrauchen, und er besaß sowohl das Geld als auch die Beziehungen, um »unliebsame« Zuschauer auf Distanz zu halten. Yeremi wandte sich Saraf zu, der an ihrer Seite saß und gedankenverloren mit den Korallenperlen seiner Halskette spielte. Die Strapazen der langen Flugreise waren ihm anzusehen, aber er wirkte ausgesprochen ruhig.
    »Wie geht es dir?«, fragte sie ihn und bemerkte sogleich, wie sich Madalin vor ihr regte.
    »Heute ist Vollmond«, antwortete Saraf.
    Sie runzelte verwirrt die Stirn.
    Er strich ihr lächelnd eine Strähne aus dem Gesicht. »Du weißt, woher der Name meines Volkes stammt. Unseren Überlieferungen nach steht Gold für ungezügelte Gefühle, Silber dagegen für die kühle Überlegung des Verstandes. Dies ist die Nacht der Silbernen.« Saraf wandte sich Madalin zu, weil dieser plötzlich mit seiner Pistole auf ihn zielte. Yeremi hielt den Atem an.
    »Noch ein Wort, und das Ding geht los«, drohte der Rumäne.
    »Dein Herr hat dir bestimmt gesagt, du sollst uns erst nachher töten«, erwiderte Saraf gelassen und ohne jede Feindseligkeit.
    »Madalin! Lassen Sie die beiden in Frieden«,

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