Der silberne Sinn
ist nicht die Antwort auf meine Frage, Jerry.«
»Es ist die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann, Stan.«
McFarell seufzte. »Also gut. Rufen Sie Mrs Block an.«
Je näher der Abreisetermin rückte, desto unruhiger wurde Yeremi. Sie war hin- und hergerissen zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung. Die letzte Aussprache mit Professor McFarell hatte sich als reinigendes Gewitter erwiesen. Yeremi genoss es inzwischen sogar, eine Expedition ohne den üblichen Vorbereitungsstress planen zu können. Alles lief wie ein Schweizer Uhrwerk. Zur Ablenkung gönnte sie sich eine kleine Abschiedsfeier mit Sandra Schroeder, einem der wenigen Menschen, denen sie vertraute. Sandra war die Urenkelin der Schwester Heinrich Bellmans und somit eine »Urgroßcousine« Yeremis. Die beiden hatten in El Paso dieselbe Schule besucht und waren seit dieser Zeit befreundet. Jetzt lebte Sandra in San Francisco, wo sie für den Chronicle schrieb.
Der »Frauenabend« in einem Nobelrestaurant nahe der Golden Gate Bridge tat Yeremi gut, denn in der folgenden Nacht konnte sie unbeschwert schlafen. Nicht immer war ihr dieses Glück beschert, denn trotz aller Fortschritte bei den Expeditionsvorbereitungen lastete auf ihrer Seele ein schwerer, kalter Stein. In letzter Zeit war sie oft schweißgebadet aus dem Bett hochgeschreckt. Sie fürchtete diesen Albtraum, der sie immer wieder als einzige Lebende durch eine Stadt von Toten wandeln ließ. Allein der Gedanke an die vorwurfsvollen Blicke der leeren Augen, an das Klagen zahnloser Münder trieb ihr den Schweiß aus den Poren.
Nach Jahren hatte dieser Traum sie zum ersten Mal wieder heimgesucht, als sie in Tupac Amaru, einem Slumviertel der peruanischen Hauptstadt Lima, bei Ausgrabungen halb verschüttet worden war; unter einem Berg von Mumien musste sie sich ins Leben zurückkämpfen. Durch den Film über die Leichenfunde von Jonestown war alles nur noch schlimmer geworden. Und nun sollte sie in wenigen Tagen nach Guyana fahren, wo dieses Grauen seinen Anfang genommen hatte.
»Ich bin’s, Opa Carl.« Yeremi saß in ihrem Arbeitszimmer in Pacific Grove, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Ihr Blick lag verloren auf den Wellen, die den Strand unterhalb des Hauses umspülten.
»Jerry! Ich dachte schon, meine Enkeltochter hätte mich endgültig vergessen!« Der Einundachtzigjährige klang erfreut und schien seine kleine Stichelei nicht einmal zu bemerken. Gewöhnlich sprachen Carl Bellman und Yeremi Deutsch miteinander und folgten so einer Gepflogenheit, der er schon bei der Erziehung seiner Söhne gefolgt war. Diese Familientradition gehörte neben einer streng religiösen Erziehung zu den identitätssichernden Maßnahmen aus Minnesota, wo Carls Eltern nach ihrer Einwanderung aus Deutschland Fuß gefasst hatten. Yeremis Urgroßmutter Rose stammte ursprünglich aus dem italienischen Pistoia, ihr Ehemann Heinrich aus der norddeutschen Hansestadt Lübeck.
Yeremi gab sich eine feste Stimme. »Ich rufe wegen Molly an.«
»Hat sie wieder…?« Seit Nils vor zwei Jahren gestorben war, litt Yeremis Adoptivmutter unter Depressionsschüben, die das freundliche Wesen manchmal völlig überraschend in tiefste Finsternis stürzten. Carl und Fredrika zeigten viel Verständnis für das Leiden ihrer Schwiegertochter.
»Im Moment geht es ihr gut. Aber es sollte sich jemand um sie kümmern, wenn ich am 15. Oktober nach Guyana fliege…«
»Wohin willst du reisen?«
»Du hast mich schon ganz richtig verstanden, Opa Carl.«
»Aber was, um Himmels willen, treibt dich dazu, ausgerechnet dorthin zu fahren?«
»Na, was schon? Ein Forschungsauftrag natürlich.«
»Ich denke, die Inkas haben in Peru gelebt.«
»Ihr Reich erstreckte sich dreitausend Meilen weit vom heutigen Ecuador bis weit nach Chile hinein.«
»Und jetzt haben sie eine Dependance in Guyana aufgemacht?«
Yeremi verdrehte die Augen. Ihr Großvater war Geologe, aber der Aufbau von Bellman Enterprises hatte aus ihm einen waschechten Unternehmer gemacht. Zum Unwillen seiner Vorstände mischte sich der äußerst vitale Greis gelegentlich immer noch in die Leitung seines florierenden Erdöl- und Chemiekonzerns ein. Früher oder später kam er, wenn man einmal von seiner Passion für die Heilige Schrift absah, immer auf Wirtschaftsthemen zu sprechen.
»Die Inka sind aus dem Geschäft«, sagte Yeremi, nachdem sie sich innerlich gesammelt hatte. »Bei dieser Expedition geht es um ein eher spirituelles Kulturerbe.«
Während der
Weitere Kostenlose Bücher