Der silberne Sinn
allem eine Menge davon an mich weitergegeben. Ich werde dich bestimmt nicht enttäuschen.«
»Davon bin ich überzeugt, meine Kleine. Wenn ich nur wüsste, warum es dich immer wieder in den Dschungel zieht!«
»Du solltest den tropischen Regenwald selbst mal besuchen, dann könntest du mich verstehen. Ich glaube, je öfter man uns Menschen einredet, dass die Welt nur noch vom Geld regiert wird, desto mehr schätzen wir die ideellen Werte des Lebens, der wunderschönen, faszinierenden Arten und der verbleibenden Fleckchen herrlicher, unberührter Natur. Nur im Dschungel spüre ich meine Verbundenheit mit der Schöpfung so intensiv. In dieser unberührten Natur empfinde ich eine innere Ruhe und Freude, wann immer ich mich in ihr aufhalte. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll…«
»Du hast es genau richtig gesagt, und ich kann dich sehr wohl verstehen, Jerry. Sei einem alten Mann nicht gram wegen seiner Visionen. Vielleicht kommst du ja als Berühmtheit aus Südamerika zurück. Deine Spürnase soll in Fachkreisen ja fast schon legendär sein.«
»Jetzt übertreibst du wieder! Man muss nur gelernt haben, die Spuren richtig zu lesen. Als Stan die Gussformen der Pyramiden in Aguascalientes und in den Wassarai Mountains erwähnte, war ich wie elektrisiert. Ich musste sofort an die Kukulcan-Pyramide von Chichen Itza denken.«
»Du meinst die Ruinenstadt der Mayas in Mexiko?«
»Genau die. Unter der Außenfläche des Heiligtums verbirgt sich noch eine weitere, eine innere Pyramide. Es ist nicht die einzige versteckte Tempelanlage in Mexiko. Eine andere hat man in der Zentralpyramide von Teotihuacan gefunden. Und jetzt diese Höhlen des Orion in einer Gegend, die bisher nur als Siedlungsgebiet von Jägern, Fischern und Sammlern bekannt war! Wir könnten da wirklich einer wissenschaftlichen Sensation auf der Spur sein.«
»Dann geht es dir gar nicht so sehr um Professor McFarells Theorie von den empathischen Telepathen?«
Yeremi gab ein abschätziges Geräusch von sich. »Wenn wir dadurch den Zivilisationsbringern aus der Alten Welt auf die Spur kommen, soll es mir recht sein. Aber offen gestanden gebe ich nicht viel auf die Idee von empathischen Geistesakrobaten.«
Bisweilen hört man, Krebs lasse sich durch Aushungern besiegen. In Yeremis Kopf wucherte jedoch ein Tumor, der nicht aus Zellen, sondern aus halb verschütteten Erinnerungen und diffusen Ahnungen bestand und ihre gesunden Gedanken zu ersticken drohte. Jeden Morgen joggte sie in scharfem Tempo den Strand entlang, bis sie nur noch ihren Körper spürte und sich ein Hochgefühl einstellte, das vorübergehend jeden Seelenschmerz verdrängte. Mehrmals im Jahr absolvierte sie Marathonläufe. Sie redete sich ein, diese Torturen nur deshalb auf sich zu nehmen, weil sie für ihre Expeditionen fit sein musste. Eine schlechte körperliche Verfassung sei schon manchem in der freien Natur, fernab jeder Zivilisation, zum Verhängnis geworden. Über die Opfer mentaler Unzulänglichkeiten verlor sie nie ein Wort.
Yeremi hatte den Samstag ihres letzten Wochenendes vor der Abreise nach Guyana gemeinsam mit Molly im Strandhaus verbracht und ihre Adoptivmutter am Sonntagmorgen zu Carl und Fredrika gefahren. Bellman’s Paradise, das großzügige Anwesen der beiden alten Leute, lag an einem malerischen Wasserlauf zwischen dem Henry W. Coe State Park und Morgan Hill, einem hübschen Städtchen im Santa Clara Valley, ungefähr zwölf Meilen südlich von San Jose und fünfzehn vom Pazifik entfernt. Das etwa vier Meilen breite Tal wurde im Westen von den Santa Cruz Mountains und östlich von den Diablo Mountains umschlossen.
Carl hatte sich und seiner Frau hier auf einer Fläche von knapp vier Quadratkilometern fürwahr ein kleines Paradies geschaffen. Als passionierter Angler zog er sich auch gerne für ein oder zwei Tage in seine Hütte am Fluss zurück, um »mit den Fischen über Gott und die Welt zu philosophieren«. Das alte Ehepaar unternahm auf eigenen Pferden überdies regelmäßig Ausritte in die nähere Umgebung. Carl und Fredrika waren ihr Leben lang aktiv gewesen und sahen keinen Grund, damit aufzuhören.
Yeremi legte oft bei ihren Großeltern Zwischenstation ein, wenn sie nach Berkeley fuhr, wo sie die Woche gewöhnlich in ihrem eigenen Apartment verbrachte. Auch am Montagmorgen verschmolz ihr Auto auf dem Highway 101 mit der Blechlawine, die sich hinter Morgan Hill das Silicon Valley hinaufwälzte.
Der kalifornische Himmel war
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