Der silberne Sinn
Pyramide vor, in der die warme Luft zur Spitze hin aufsteigt, dann bekommen Sie genau diese Wärmeverteilung.«
Yeremi spürte, dass ihr Herz heftig zu pochen begann. »Pyramiden? Sie meinen, wie die Gewölbe in der mexikanischen Silberstadt? Wie groß sind diese Höhlenkarrees?«
»Jedes nimmt die Fläche von mehr als neunzig Metern im Quadrat ein. Sollten die Schöpfer dieser Anlage sich an das klassische Pyramidenmaß gehalten haben, wovon wir aufgrund der gemessenen Temperaturverteilung ausgehen können, dann laufen die Höhlenwände in einem Winkel von zweiundfünfzig Grad zur Spitze hin. Demnach müsste jeder der drei Hohlräume knapp vierundsechzig Meter hoch sein.«
Yeremis Augen waren glasig geworden. Sie versuchte, das Gehörte zu begreifen. »Eine Hohlraumpyramide, in die man bequem den schiefen Turm von Pisa hineinstellen könnte – das ist unglaublich! Bei drei dieser Strukturen müsste doch eine gewaltige Menge Abraum entstanden sein, genug, um sogar aus dem Weltraum bemerkt zu werden.«
»Die Baumeister könnten den Schutt in andere Höhlen geschafft haben. Aber selbst im ungünstigsten Fall – der Dschungel ist ein Nimmersatt. Im Verlauf von fünfhundert Jahren verschluckt er alles, sogar…«
»Haben Sie fünfhundert Jahre gesagt?«
McFarells grüne Augen blitzten, während er diebisch grinste. »Sollte ich etwa vergessen haben, das zu erwähnen? Die drei Höhlenpyramiden von Guyana sind genau nach den Gürtelsternen des Orion ausgerichtet, und zwar in der Formation, wie sie sich dem Betrachter vor fünfhundert Jahren geboten hat.«
»Wenn das stimmt…« Yeremi verschlug es die Sprache. Mit der Satellitenaufnahme aus den Wassarai Mountains hatte sich alles geändert. Ihr Widerstand fiel in sich zusammen. Eine Chance wie diese bot sich einem Forscher nur einmal im Leben. Sie, Professor Yeremi R. Bellman, konnte den Annalen der Wissenschaft ein neues Kapitel hinzufügen. Mehr noch…
»Die Geschichtsbücher wären Makulatur«, sprach McFarell zufrieden lächelnd aus, was Yeremi kaum zu denken wagte. Er hatte sie für sein Unternehmen gewonnen, und er wusste es. Unvermittelt verhärtete sich sein Blick. »Allerdings sollten wir keine Zeit verlieren, damit es uns nicht genauso wie bei dem Höhenheiligtum in Argentinien ergeht.«
Yeremi wusste, worauf der Professor anspielte. Kollegen hatten vor einigen Jahren auf einem Berggipfel – sage und schreibe sechstausendachthundert Meter über dem Meeresspiegel! – eine Treppe entdeckt, die zu einer Plattform mit einem in typischer Inka-Bauweise gemauerten Turm hinaufführte. Darin befand sich die mit Pretiosen geschmückte Mumie eines kleinen Jungen. Die Wissenschaftler staunten, denn der Knabe war blond! Als sie die sterblichen Überreste mit Spezialgeräten aus dem ewigen Eis bergen wollten, waren ihnen Grabräuber zuvorgekommen.
»Gibt es einen konkreten Anlass zur Sorge?«, fragte sie mit belegter Stimme.
McFarell zeigte ihr die geöffneten Handflächen. »Unsere Arbeit ist ein ständiger Wettlauf mit Grabräubern, Kunstdieben und anderem lichtscheuen Gesindel.«
Yeremi sog die Oberlippe zwischen die Schneidezähne und nickte mehrmals. »Sie haben Recht. Wir müssen die Höhlen des Orion finden, bevor es jemand anders tut. Dann werde ich ein solches Fiasko wie das in Argentinien auch zu verhindern wissen.« Sie schüttelte grimmig den Kopf. »Können Sie mir erklären, Stan, was für Menschen das sind, die eine Stange Dynamit in die Mumie eines blonden Inka-Jungen stecken und sie einfach in die Luft jagen?«
WIDERSPRUCH UND WANKELMUT
Berkeley (Kalifornien, USA)
30. September 2005
10.21 Uhr
Die Vorbereitungen liefen gut. Fast zu gut. Eine wochen- oder sogar monatelange Expedition stellte die Nerven aller Beteiligten gewöhnlich schon im Vorfeld auf eine harte Probe. Die Verantwortlichen und ihre Mitarbeiter mussten sich um Tausende von Einzelheiten kümmern. Die Zusammenstellung der Ausrüstung war da noch eine der leichteren Übungen. Vor allem die Behörden, nicht nur im Zielland, verlangten ihr Recht: Zollformalitäten mussten abgewickelt, Pässe verlängert, Visa beantragt, Genehmigungen eingeholt und Bestechungsgelder gezahlt werden. Logistische Probleme waren zu lösen, Hilfskräfte anzuheuern. Wer gehörte ins Kernteam, und wen ließ man besser zu Hause? Mehr als jeder andere in diesem Geschäft überlegte Yeremi sich gründlich, wem sie im Notfall ihr Leben anvertrauen wollte. Bei einem früheren Unternehmen
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