Der silberne Sinn
Unternehmer Carl sich aus dem Gespräch zurückzog, erwachte unvermittelt der Glaubensmensch. »Was willst du damit andeuten?«
»Darüber darf ich nichts sagen. Das Projekt ist zwar kein Staatsgeheimnis, aber…«
»Soll das heißen, du vertraust mir nicht mehr?«
Yeremi biss sich auf die Oberlippe. Ihr Großvater zählte zu den wenigen Menschen, denen sie Einblick in ihre tiefsten Empfindungen gewährte, wenngleich selbst er nicht alle ihre Geheimnisse kannte. Manchmal plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich dem geliebten und respektierten alten Mann nicht vorbehaltlos öffnen konnte. Seine Frage hatte sie mitten ins Herz getroffen; und obwohl sie schon ahnte, wie er reagieren würde, erzählte sie ihm von den Erwartungen, die McFarell mit der Expedition verband. Hierauf entstand eine längere Pause.
Und dann polterte Carls kraftvolle, tiefe Stimme: »Was willst du tun? Telepathen ausfindig machen?« Er war offenkundig bestürzt.
Yeremis Antwort dagegen fiel eher nüchtern aus. »Bei der telepathischen Empathie handelt es sich nicht um Teufelswerk, wie du vermutlich gerade denkst, sondern um die Fähigkeit, sich in die einzigartigen Empfindungen anderer Menschen einzufühlen und darauf Einfluss zu nehmen.«
»Anscheinend kannst du meine Gedanken schon jetzt sehr gut lesen«, drang es vorwurfsvoll aus dem Hörer. »Verstehe mich nicht falsch, Jerry. Du bist mein einziges Enkelkind. Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist eine bezaubernde junge Frau, hast einen faszinierenden Beruf, kennst keinerlei Nöte, was das Finanzielle angeht – aber immer wieder treibt es dich hinaus in Schlammlöcher und die grüne Hölle des Dschungels. Dahinter verbirgt sich doch noch etwas anderes als rein wissenschaftliche Interessen. Ich kenne dich schon zu lang, als dass du mir etwas vormachen könntest. Was du da tust, ist ein Davonlaufen auf Raten – wovor, kann ich nur ahnen.« Carl räumte ein, wenig Verständnis für die sonderbaren Vorstellungen Professor McFarells zu haben. »Ein Volk mit übersinnlichen Kräften!«, brummte er grimmig, um sich gleich wieder auf einen flehentlichen Ton zu besinnen. »Lass dich bloß nicht mit Okkultisten ein, Kind!«
Mit einer dermaßen heftigen Reaktion ihres Großvaters hatte Yeremi nicht gerechnet, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Dachte er vielleicht, sie hätte sich nicht im Griff, würde sich in die Hand eines Verführers begeben, so wie es ihre Eltern getan hatten? Trotzig schob sie den Gedanken beiseite.
»Opa Carl, bei der Expedition geht es nicht um irgendwelchen spiritistischen Schnickschnack, sondern um den wissenschaftlichen Nachweis der empathischen Telepathie.«
»Und wenn du dich täuschst? Bedenke die warnenden Worte aus dem Deuteronomium: ›Ihr dürft keine Wahrsager und Wahrsagerinnen unter euch dulden, niemanden, der aus irgendwelchen Zeichen oder mit irgendwelchen Praktiken die Zukunft voraussagt, auch niemanden, der Zauberformeln benutzt und damit Geister beschwört oder Tote befragt. Wer so etwas tut, ist dem Herrn zuwider. Genau dieser Dinge wegen vertreibt der Herr die Bewohner des Landes…‹«
»Hör sofort auf damit, Opa Carl! Wann wirst du endlich akzeptieren, dass ich mich gegen Holy Hill entschieden habe? Genau denselben Bibeltext hast du mir übrigens schon unter die Nase gerieben, bevor ich nach Lima aufgebrochen bin. Wenn ich dort – auf einem Friedhof! – keine Toten befragt habe, dann werde ich es in Guyana erst recht nicht tun. Zufrieden?«
Mit der Bemerkung über Berkeleys »Heiligen Berg« hatte Yeremi auf die Pacific School of Religion angespielt, deren Campus sich gleich neben dem der Universität auf einer Anhöhe über der Stadt befand. Wäre es nach Carl gegangen, hätte seine Enkelin dort ihre Ausbildung genossen.
Aus dem Hörer ertönte nur Rauschen.
Yeremi schloss die Augen und holte tief Luft. »Tut mir Leid, Opa Carl. Ich verspreche dir, keine Drogen zu nehmen, mich von niemandem hypnotisieren zu lassen und mich an keinen Seancen zu beteiligen. Können wir jetzt auf den eigentlichen Grund meines Anrufes kommen?«
Endlich erklang wieder die tiefe Stimme des alten Mannes an ihrem Ohr. »Ich möchte dich glücklich wissen, Jerry. Das ist alles, was ich mir auf meine alten Tage noch wünsche.«
»Ich liebe dich, Opa Carl. Auch wenn das Schicksal etwas in mir zerstört hat, was du noch besitzt, bin ich doch dankbar für die Werte, die du deinen beiden Söhnen eingepflanzt hast. Glaube mir, sie haben trotz
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