Der silberne Sinn
ansichtskartenblau, die Klimaanlage in Yeremis Geländewagen, einem Mercedes der M-Serie, sorgte für angenehme Temperaturen, und aus dem Radio ertönte ein Oldie der Beach Boys – abgesehen von der verstopften Straße ideale Bedingungen für einen unbeschwerten Wochenanfang.
Und dann wurde den Beach Boys plötzlich die Luft abgedreht.
Sondermeldung. Auf die US-Botschaft in Moskau sei mit einer Panzerfaust geschossen worden, verkündete eine weibliche, sehr ernste Stimme aus dem Radio. Keine Verletzten. Auch der materielle Schaden halte sich in Grenzen, aber politisch sei der Anschlag ein Desaster. Bei San Jose wählte Yeremi die östliche Route um die San Francisco Bay herum, die über Fremont und Oakland führte, und drehte das Radio lauter.
Die russischen Behörden machten die Mafia für den dreisten Terrorakt verantwortlich. Der Regierungssprecher in der Pressekonferenz wählte etwas moderatere Worte, aber letztlich lief es aufs Gleiche hinaus. In den zurückliegenden Wochen hatten sich die Nachrichten von einer gänzlich undemokratischen Machtübernahme im Land gehäuft. Einige Kommentatoren behaupteten, Russland werde längst von der organisierten Kriminalität beherrscht. Eine häufig geäußerte Sorge fand neue Nahrung: Hatte eigentlich noch jemand die Kontrolle über das russische Atomwaffenarsenal? Das Gerangel zwischen den gemäßigten Politikern und den Altkommunisten fand kein Ende und kostete das Land Kraft, die zulasten von Reformen ging. Außerdem blühte die Korruption. Auch wegen solcher Nachrichten sehnte sich Yeremi danach, in einer Woche endlich der so genannten zivilisierten Welt zu entkommen.
Sie schaltete das Radio aus und rief im Sekretariat der Fakultät an, weil sie gleich nach ihrer Ankunft die Doe Library aufsuchen wollte. In Berkeley nahm sie die Abfahrt Telegraph Avenue, bog auf dem Campus rechts in den Bancroft Way ein und erreichte kurz vor elf ihren Parkplatz an der Westseite der Kroeber Hall.
Die Vorbereitungen für Guyana waren so gut wie abgeschlossen. Nach der Pflicht wollte sich Yeremi ein wenig der Kür widmen, sich einen Überblick auch in jenen Forschungsgebieten verschaffen, die ihr weniger vertraut waren. Zum Team gehörte zwar ein Psychologe – der von Yeremi vorgeschlagene Wissenschaftler hatte kurzfristig abgesagt, weshalb McFarell einen Ersatz beibringen wollte –, aber es konnte nicht schaden, sich wenigstens ansatzweise mit dem Thema Empathie vertraut zu machen.
Der Lesesaal der Doe Library war sehr lang und besaß eine hohe, gewölbte Decke. Tageslicht flutete aus Oberlichtern herein ebenso wie durch die großen Fenster, die sich über eine ganze Seite des Raumes erstreckten. Hölzerne Lesetische standen wie Ruderbänke in einer Galeere über die gesamte Länge hinweg quer zum Mittelgang. Der Gesamtbestand der Bibliotheken von Berkeley zählte ungefähr neun Millionen Bände, dazu kamen Abertausende von Fachzeitschriften, Manuskripten, Landkarten, Mikrofilmen und vieles mehr. Regelmäßig wurden Orientierungskurse für neue Studenten angeboten, damit sie sich in diesem Irrgarten des Wissens nicht verliefen.
Yeremi brauchte derlei Hilfestellungen schon lange nicht mehr. Routiniert durchforstete sie die einschlägigen Kataloge nach Schlagworten wie »Empathie«, »Gedankenlesen« und »Telepathie«. Mit einem gewaltigen Stapel von Büchern und Fachmagazinen suchte sie sich einen Platz an einem Lesetisch nahe der Fensterwand. Sie klappte ihr Notebook auf und schloss den Lesestift an, mit dem sie einzelne Textpassagen aus den Publikationen direkt in den Computer übertragen konnte. Ein junger Mann, der Lektüre nach zu urteilen ein Student des College of Chemistry, lächelte ihr von der anderen Seite her zu, aber als er das gefährliche Funkeln ihrer dunklen Augen sah, steckte er die Nase schnell wieder in sein Buch.
Können Menschen durch Geisteskraft die Gefühle anderer Personen lesen oder sogar manipulieren? Diese Frage bewegte Yeremi. Bei ihren Recherchen im Internet war sie auf eine Unmenge von esoterischen Quellen gestoßen. Aber was sagten ernst zu nehmende Wissenschaftler?
Gelehrte verschiedener Fachrichtungen hatten die Empathie längst als lohnendes Forschungsgebiet entdeckt. Erwiesenermaßen sei die Einfühlung, das konnte Yeremi in einem dicken Wälzer lesen, direkt mit zwei verschiedenen, aber zusammenhängenden Regionen des Gehirns verbunden: Im Neokortex, in dem die intellektuellen Leistungen des Menschen stattfinden, werden Gefühle
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