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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sortiert, bewertet und reflektiert; der Mandelkern – auch Amygdala genannt – kontrolliert die Entstehung von Empfindungen im limbischen System. Es besitzt das Monopol auf die Erzeugung von Lust, Wut und Freude, es sei »der Ort, wo die Tränen ihren Ursprung haben und unsere bedeutendsten individuellen Erinnerungen gespeichert sind«, hieß es in dem Buch. Aber es erwähnte die empathische Telepathie nicht.
    Die seriöse Literatur behandelte dieses Thema offensichtlich mit großer Zurückhaltung. Die bislang erforschten sensorischen Fähigkeiten des Homo sapiens seien ziemlich beschränkt, war immer wieder zu lesen. Mit der Fremdsteuerung von Emotionen verhalte es sich ähnlich. Yeremi schnaubte verächtlich. Sie musste an einen Mann denken, der diese Gabe wohl besessen hatte. Wie sonst…? Ihr Blick traf sich mit dem des argwöhnisch zu ihr herüberlinsenden Studenten von der anderen Seite des Tisches, ein dunkelhaariger Lockenkopf, höchstens zweiundzwanzig, schlanker Körperbau, semitische Physiognomie, neugierig, möglicherweise auf der Suche nach einem Abenteuer… Die Anthropologin in ihr analysierte noch den Typus, während ihre Augen schon wieder Blitze verschossen. Der junge Mann senkte erschrocken den Blick. Zufrieden widmete sie sich wieder ihrem Fachbuch.
    »Die Psychologie verweist auf ein Instrumentarium sensoriell wahrnehmbarer Reize, zu denen auch die Körpersprache, der Tonfall, verschiedene umgebungs- und situationsbedingte Einflussfaktoren und natürlich das gesprochene Wort selbst gehören. Aber die Wissenschaft weiß praktisch nichts über Organe, die als Empfangs- oder gar Sendeantennen in die Gefühlswelt anderer Individuen dienen könnten.« Yeremi las dieses Resümee mit einer gewissen Genugtuung, fühlte sie sich doch in ihrer skeptischen Haltung gegenüber Professor McFarells Empathietheorie bestätigt. Aber dann stieß sie auf einen Artikel im New Scientist.
    Verblüfft las sie da von den »Spiegelneuronen«, einer besonderen Art von Nervenzellen, die in zwei speziellen Hirnregionen beheimatet seien. Eines der betreffenden Areale, das Broca-Zentrum, sei für die motorische Sprachfähigkeit verantwortlich. Die Spiegelneuronen feuerten nicht nur dann Signale ab, wenn der Mensch bestimmte Handlungen selbst ausführte, sondern verhielten sich ebenso, wenn eine andere Person bei den gleichen Verrichtungen lediglich beobachtet wurde. Wissenschaftlern der Universität von Kalifornien in San Diego zufolge könnte dieses Prinzip maßgebend sein »für die Lernfähigkeit des Menschen sowie für den Einfallsreichtum und die Entwicklung einer Kultur«.
    Yeremis Kopf fuhr mit einem Ruck auf. Mit Augen, die nur noch Schlitze waren, fixierte sie den Studenten, der gerade über seinen Buchrand geschielt hatte und sich nun – ertappt – zurück ins Gestrüpp der anorganischen Chemie flüchtete. Sie musste an Professor McFarells Äußerungen über die empathisch begabten Zivilisationsbringer denken. Ohne es zu wollen, stellten sich bei ihr eine Reihe von Assoziationen ein: Wenn beobachtete Handlungen im Gehirn wie selbst verrichtete Aktivitäten wahrgenommen werden, könnte sich dann nicht auch etwas Ähnliches auf der Gefühlsebene abspielen? Zugvögel benutzten für ihre Navigation nachweislich das unglaublich schwache Magnetfeld der Erde. Auch im menschlichen Gehirn flossen Ströme, die zumindest mit Geräten messbar waren. Gefühle beeinflussten außerdem die Muskelaktivität – in einem Aufsatz hatte Yeremi von dem Hellseher Erik Jan Hanussen gelesen, der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren Varietebesuchern gerne als Telepathie verkaufte, was in Wirklichkeit nur »Muskellesen« war. Die Wissenschaftlerin in Yeremi mahnte zur Objektivität:
    Konnte man unter Berücksichtigung all dieser Faktoren zweifelsfrei die Existenz eines »empathischen Organs« oder eines anderen natürlichen »Apparats« ausschließen, der dem Menschen, vielleicht auch nur besonders begabten Einzelpersonen, den Zugriff auf die Gefühle anderer gestattete?
    Yeremi hatte die Augen nun ganz geschlossen und versuchte das Empfinden zu ignorieren, von dem Lockenkopf auf der anderen Seite angegafft zu werden. Aber sosehr sie sich auch konzentrierte, wollte ihr doch kein Gegenbeispiel einfallen, durch das sich Professor McFarells Hypothese von den empathischen Telepathen zweifelsfrei widerlegen ließe. Und solange eine solche Falsifikation nicht möglich war, musste man einer Theorie die Chance einräumen, sich empirisch zu

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