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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bewähren – so arbeitete die Wissenschaft…
    Yeremis Gedankenfaden riss unvermittelt ab. Ihre Nase hatte einen vertrauten Duft aufgefangen, während ihre Augen immer noch geschlossen waren. Ihr Puls, eben noch ganz ruhig, raste wie nach dem morgendlichen Lauftraining. Der Geruch, diese unverkennbare Mischung aus Rosmarin, Koriander, Salbei, mit einem Hauch Sandelholz und Eichenmoos, war wie ein Schlüssel, der in ihrem Innern überraschend eine Tür geöffnet hatte. Kalter Schweiß trat aus ihren Poren. Angst kroch durch sie hindurch wie ein feuchtes, schleimiges Wesen. Sie wollte den Kopf drehen, sich selbst beruhigen, indem sie den Mann anblickte, der glaubte, seine Männlichkeit mit Cool Water von Zino Davidoff unterstreichen zu müssen, aber sie konnte es nicht. Der Duft des Eau de Toilette wirkte auf Yeremi wie ein Nervengas.
    »Hier bist du also«, flüsterte eine Stimme direkt neben ihrem rechten Ohr. Sie spürte den warmen Hauch des Atems, und gleichzeitig schien sich ein Heer von Nadeln in ihren Rücken zu bohren. Sämtliche Haare richteten sich in ihrem Nacken auf, und endlich gelang es Yeremi zu krächzen: »Madre mia! Du hast wirklich Mut, hier aufzukreuzen, Al Leary!«
    »Immer noch sauer auf mich?«, antwortete der Mann in ihrem Rücken gekränkt.
    Inzwischen hatte der Chemiestudent von gegenüber Yeremis Körpersprache übersetzt und fragte: »Alles in Ordnung? Belästigt Sie der Mann?«
    »Und ob er das tut«, antwortete sie. »Sie haben nicht zufällig einen Baseballschläger zur Hand?«
    »Sie scherzt«, krakeelte Al Leary, als sei der Lesesaal die Börse. Dabei breitete er demonstrativ die Arme aus und zeigte allen, die er mittlerweile hatte aufstören können, sein von einem breiten Grinsen überstrahltes, kantiges Gesicht. Zugegeben, er sah gut aus. Ein mittelgroßer, aschblonder Mann – eine gepflegte Erscheinung –, graue, exakt gebügelte Hose, kurzärmeliges blaues Hemd mit goldgelber Krawatte. Er erinnerte an einen Politiker im Wahlkampf, dessen Slogan lautete: »Wir sind alte Bekannte. Nur keine Panik.«
    Unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft wandte sich Yeremi ihrem Erzfeind zu und zischte: »Wie hast du mich gefunden?«
    Leary entzog dem Wahlvolk die Aufmerksamkeit, um sie der einzelnen Dame zu schenken, die vor ihm am Tisch saß. »Das Sekretariat sagte mir, du hättest dich heute vom Highway 880 über das Autotelefon gemeldet und gesagt, du würdest dich sofort in die Doe oder die Bancroft Library begeben…«
    »Warum höre ich dir überhaupt zu?«
    »Vielleicht, weil du mich gefragt hast? Ehrlich gesagt, könntest du diese alte Sache endlich vergessen. Es war ein Unfall…«
    »Einen Unfall nennst du das? Raus hier! Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Al Leary. Geh, sonst lasse ich den Sicherheitsdienst rufen.«
    Yeremi wandte sich wieder dem besorgt dreinblickenden Chemiestudenten zu, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen, um ihre Fassung wiederzugewinnen.
    Al Leary war tatsächlich ein alter Bekannter. Sie hatte ihn während ihrer Studienzeit kennen gelernt. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er sieben Jahre älter war als sie, entwickelte sich zwischen ihnen bald eine enge Freundschaft. Al war schon damals kein grüner Junge mehr wie die anderen Studenten. Seine Ernsthaftigkeit, die gelegentlich in Zynismus umschlug, wurzelte tief. Nachdem die beiden sich näher gekommen waren, erzählte er ihr von den Misshandlungen, die ihm sein Vater über Jahre hinweg hatte »angedeihen« lassen. Später lief Al von zu Hause fort und ging zur Marine. Er wurde Pilot. Als Navy-Flieger meisterte er eine Reihe lebensbedrohlicher Situationen, was Yeremi einmal ziemlich beeindruckt hatte. Weil er die ihm vom Vater zugefügten seelischen Wunden verstehen und anderen, die Ähnliches wie er durchgemacht hatten, helfen wollte, ließ er eine viel versprechende Militärkarriere fahren und schrieb sich an der Universität von Kalifornien für den Studiengang Psychologie ein. Nach der Promotion machte er Karriere in der Wirtschaft, während Yeremi sich für eine akademische Laufbahn als Anthropologin entschied. Obwohl sie beide im Großraum San Francisco lebten, gingen sie sich seit Jahren aus dem Weg. Ihre gemeinsame Vergangenheit war durch einen schmutzigen Vorgang befleckt, den Yeremi in ihrem Erinnerungsarchiv nicht ablegen konnte. Nie mehr, das hatte sie sich damals geschworen, sollte irgendein Mensch in sie eindringen und ihr seinen Willen aufzwingen dürfen – schon

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