Der silberne Sinn
darunter allein zweihundert Kilo Maniokmehl, das Grundnahrungsmittel der Indianer, außerdem Hängematten, Moskitonetze, mehrere tragbare Computer, zwei Satellitentelefone…
Jedes der schwankenden Wasserfahrzeuge war mit einem Wai-Wai besetzt. Erster-Klasse-Plätze gab es nicht – alle Expeditionsteilnehmer kauerten mehr schlecht als recht zwischen Kübeln, Kisten und geflochtenen Körben. Wachana Yaymochi führte die Gruppe an. Er steuerte das Kanu, in dem noch Yeremi, Irma und Dave mitfuhren. Außenbordmotoren trieben die Boote den Essequibo hinauf. Die Paddel dienten nur für den Notfall. Wachana hatte das seine mit einem roten Muster versehen: Abwehrzauber gegen böse Geister.
»Glaubst du daran?«, fragte Yeremi.
Er lachte nur.
Die Sonne war erst vor kurzem aufgegangen. Der Essequibo mäanderte träge dahin, ein glitzernder Lindwurm in einem grünen Bett. Yeremi betrachtete gedankenversunken die wuchernde Vegetation, die das Flussufer verhüllte. Nebelwolken hingen in den Baumkronen. Am Vorabend hatte das ganze Dorf Abschied gefeiert. Wachanas Zurückhaltung war so schnell gewichen wie das Sonnenlicht. Bald erzählte er Yeremi Anekdoten über frühere Expeditionen und Geschichten von Ajuga, dem sagenumwobenen König aller Pflanzen, der sich den Kleingläubigen nur als uralter Baum zeige. Seit dem Fest behandelte Wachana seinen neuen Boss wie eine ältere Schwester.
Yeremi lehnte sich im Boot zurück, schaute in den blauen Himmel und lauschte genussvoll den Stimmen des Waldes. Den weisen Rat Ajugas vernahm sie nicht, aber dafür waren Vögel und Affen recht mitteilsam. Eine Schwalbe kreuzte anmutig Yeremis Blickfeld. Sie lächelte selig. Kurz vor dem Aufbruch hatte sie mit Leary, Clarke und Wachana noch einmal die Karte studiert, um die Route abzustimmen. »Dense Forest« stand da über dem Gebiet der Wassarai Mountains, »dichter Wald« – als habe sich der Kartograf verzweifelt bemüht, um die grüne Wildnis weniger unbekannt erscheinen zu lassen. Nun hatte der Wald die Kanus verschluckt und sich hinter ihnen geschlossen, als wolle er den achtzehn Expeditionsteilnehmern jeden Rückweg verstellen…
»Wenn die weiße Frau noch lebt, soll sie sich hinsetzen. Nur Tote liegen in einem Boot.«
Yeremi schreckte hoch. Sie blickte über Wachanas Schulter hinweg nach hinten, um in den folgenden Booten den Urheber dieser seltsamen Warnung ausfindig zu machen. Die Gesichter der Indianer waren wie versteinert. Nur Wachana grinste.
»Das war Aaron.«
»Hat einen merkwürdigen Humor, dein Kumpel.«
»Er ist nur abergläubischer als ich.«
»Wie meinst du das?«
»Wer sich tot stellt, ist bald tot.«
»Ich kann mich vor Lachen kaum halten.« Verärgert schaute Yeremi wieder nach vorn. Während ihres Studiums waren ihr des Öfteren Bestattungsbräuche begegnet, in denen Schiffe eine Rolle spielten: die Sonnenbarken der Ägypter, die steinernen Hällristningar-Schiffe der Skandinavier – und nun auch die Einbäume der Wai-Wai-Indianer? Als Wissenschaftlerin neigte sie dazu, von Übereinstimmungen auf Zusammenhänge zu schließen. Das Kanu fing plötzlich an zu schwanken, was ihren Überlegungen vorerst ein Ende setzte.
Dave Clarke rührte sich im Bug. »Ich hasse es, meine Beine zwischen Plastikeimern und Alukisten zusammenzufalten.« Er setzte sich auf das Dollbord, was die Fahrt noch unruhiger machte.
»Was haben Sie vor?«, fragte Block besorgt. Sie saß unmittelbar hinter dem Botaniker und hatte gerade ihr Teleobjektiv auf eine Affensippe gerichtet.
»Ich will noch einmal unseren ›Sextanten‹ überprüfen. Im Moment wissen wir noch, wo wir sind. Ungefähr jedenfalls.« Er schaltete den GPS-Empfänger ein und schüttelte das Gerät wie eine streikende Uhr.
»Anscheinend trauen Sie dem fortschrittlichsten Navigationsmittel der Menschheit nicht«, sagte Yeremi amüsiert.
Clarke lehnte sich gefährlich weit über das grüne Wasser hinaus, um an der Fotografin vorbeisehen zu können. »Das GPS erleichtert unsere Positionsbestimmung auf den Karten – ganz nett für das Tagebuch –, aber ohne Wachana und seine Stammesbrüder wäre die Expedition vermutlich schon hinter der ersten Flussbiegung verloren gegangen.«
»Meinen Berechnungen nach sind es etwas mehr als einhundert Meilen bis zu unserem Zielgebiet. Ich habe für die Fahrt drei Tage veranschlagt. Was meinen Sie dazu?«
»Dasselbe wie neulich: Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«
Der Urwald diktierte den Eindringlingen seinen Rhythmus:
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