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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Pflanzen zu entdecken; und sollten wir tatsächlich auf die Weißen Götter stoßen und ihnen ein Wunderkraut entreißen, dann werde ich ein National Geographic -Magazin nehmen, das geheimnisvolle Blümchen zwischen Irma Blocks bunte Fotos pressen, wenn möglich noch ein paar Proben derselben Art sammeln, sie wissenschaftlich untersuchen, sie bestimmen und alles nach Hause tragen, frohgemut, weil mich dort ein prächtiger Scheck erwartet. Vielleicht gibt’s sogar noch einen Bonus. Jeff Flatstone wird der spendabelste Mensch auf Erden sein, wenn ich ihm mehr liefern kann als eine passiflora species novum.«
    »Eine was?«
    »Eine unbekannte Passionsblume oder auch eine Liane, ein Bärlappgewächs oder sonst irgendein Kraut – ich schätze, im Hinterland von Guyana gibt es noch Zehntausende unentdeckter Pflanzenarten, und jede von ihnen könnte uns den Sieg über millionenfaches Leid bescheren. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.«
    »In einem Monat beginnt die zweite Regenperiode.«
    »Das habe ich nicht gemeint.«
    »Ich weiß, Dave. Aber so gerne ich Ihnen etwas anderes sagen würde: Es gehört nicht zu den Aufgaben dieser Expedition, den Regenwald zu retten.«
    Der Botaniker sah sie lange nachdenklich an. Dann antwortete er: »Kommt drauf an, was sich darin verbirgt.«
     
     
    Abbatissa Jerilynn Hamilton-Longhorne schrie. Es war nur ein Schrei so dünn wie der Ast, den das Fahrwerk der Trislander soeben gestreift hatte. Das Flugzeug taumelte auf die schmale Sandpiste zu. Als Dave Clarke wenige Minuten zuvor Stoßgebete an die Waldgötter empfohlen hatte, war er von den übrigen Wissenschaftlern belächelt worden. Inzwischen lächelte keiner mehr.
    Als würde die Erde selbst sich öffnen, tauchte vor der Maschine die Landeschneise auf. Thomas Sose bekreuzigte sich. Das Heck des Flugzeugs schien zu einem Überholversuch anzusetzen – es schwenkte einen beunruhigenden Moment lang nach Backbord –, aber der Chefpilot brachte es wieder auf Kurs. Baumkronen fegten an den Kabinenfenstern vorbei. Yeremi hielt den Atem an. Ein Ruck presste sie in den Ledersitz. Das übermütige Heck war gelandet, der Bug flog immer noch. Erschreckend langsam senkte sich die Nase der Trislander nach unten. Ein letztes Mal brüllten die Motoren auf.
    »Wir leben! Lasst uns eine tekia blasen!«, jubelte J. J. Greenleaf. Er saß direkt vor dem Botaniker.
    »Was will er tun?«, rief Clarke.
    Yeremi lachte. »Anlässlich von Rosch Ha-Schana und Jom Kippur lassen die Juden den Schofar, das heilige Widderhorn, erschallen. Es erinnert an Isaaks Rettung vor dem Opfermesser seines Vaters Abraham, weil Gott als Ersatz einen Widder sandte. Das gleiche Wunder soll einen zum Sterben Verurteilten retten, wenn das Schofar geblasen wird.«
    »Er hat aber nicht Schofar, sondern Tekia gesagt.«
    J. J. reckte sich über die Sessellehne nach hinten und grinste. »So nennen wir Juden das lang gezogene Signal, das wir auf dem Widderhorn blasen. Tekia bedeutet ›im Boden befestigt, eingerammt sein‹.«
    Clarke schüttelte lachend den Kopf.
    Sobald die Maschine neben einer rostigen Wellblechhütte ausgerollt war, kam der Copilot nach hinten und öffnete die Kabinentür. Augenblicklich quoll eine feuchte Hitze ins Flugzeug, die den Schweiß aus den Poren trieb. Yeremi ließ die Luft des Dschungels tief in ihre Lungen strömen. Endlich war sie wieder im Garten Gottes!
    Während Al Leary das Entladen der Ausrüstung überwachte, marschierte sie zusammen mit Irma Block und Dave Clarke ins Dorf. An der Hand des Botanikers baumelte eine Plastiktüte.
    »Gastgeschenke?«, fragte Yeremi.
    »Ein Taschenmesser und noch dazu einige Angelhaken«, antwortete Clarke.
    »Dafür ist die Tasche aber ziemlich prall gefüllt.«
    »Es stecken noch ein Paar Schuhe drin, Marke Adidas.«
    »Machen Sie Witze?«
    »Als ich Wachana zum letzten Mal getroffen habe, wünschte er sich nichts sehnlicher als solche Sportschuhe.«
    »Ist das nicht schon sechs Jahre her?«, wunderte sich Block.
    Clarke zuckte die Achseln. »Hier ticken die Uhren anders. Sie werden das schon noch feststellen.«
    Innerhalb von Minuten waren die drei von einer Menschentraube umringt. Nur höchst selten verirre sich ein Regierungsvertreter in diesen letzten Vorposten der Zivilisation, erklärte der Botaniker seinen Begleiterinnen. Tourismus existiere überhaupt nicht. Wenn die Wai-Wai-Indianer von Gunn’s Strip Seife oder Salz einkaufen wollten, dann müssten sie bis zum nächsten Laden elf Tage mit dem Boot

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