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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Problem. Ich bin es gewohnt, als Sonderling betrachtet zu werden. Würde mich übrigens nicht wundern, wenn die vom Silbernen Volk verwendeten Ortsnamen einen Anhaltspunkt über seinen Ursprung geben.«
    Yeremi fing die Rettungsleine dankbar auf. »Sie meinen, so wie bei dem Handelsposten New Amsterdam, aus dem später New York City wurde? Möglicherweise liegen Sie mit Ihren Vermutungen gar nicht so falsch, Dave. Ich habe Sarafs Aussagen mitgeschnitten und sie auszugsweise per E-Mail an einen Linguisten geschickt. Die Antwort ist heute Morgen eingetroffen. Raten Sie mal, was dabei herausgekommen ist.«
    »Machen Sie ‘s nicht so spannend, Yeremi!«
    »Einige der Wendungen und Wörter, die Saraf Argyr benutzt, sind sehr antiquiert. Der Linguist wollte wissen, ob die Aufnahme ein Scherz sei, weil das von unserem Silbermann gesprochene Arawakisch rund vier- bis fünfhundert Jahre alt ist.«
    Der Botaniker pfiff leise durch die Zähne. »Sind nicht auch die Höhlen des Orion aufgrund ihrer astronomischen Orientierung auf dieses Zeitfenster datiert worden?«
    »Sie sagen es.«
    »Weiß Leary schon davon?«
    »Ich hab’s ihm beim Mittagessen erzählt.«
    »Und?«
    »Können Sie sich seine Antwort nicht denken, Dave?« Yeremi versuchte, die gedehnte Sprechweise des Psychologen nachzuahmen. »›Das Mosaik formt sich zu einem erkennbaren Bild, Jerry‹, hat er gesagt. ›Dieser Mann, dessen Physiognomie so gar nicht zu der anderer einheimischer Volksgruppen in Mittel- und Südamerika passt, könnte einem Stamm angehören, der in den letzten fünfhundert Jahren von der Außenwelt völlig isoliert gelebt hat. Natürlich müssen wir objektiv bleiben und besonnen vorgehen. Doch mein Gefühl sagt mir, dass wir einen Nachfahren der Weißen Götter vor uns haben.‹« Yeremi lachte. »Meiner Ansicht nach ist Saraf eher ein Abkomme der ersten Konquistadoren oder eines in den spanischen Kolonien entlaufenen Sträflings. Aber Sie wissen ja, wie Al ist. Er glaubt, wissenschaftliche Theorien ließen sich durch die ständige Wiederholung bloßer Behauptungen beweisen.«
    »Sie können Al nicht besonders leiden, stimmt’s?«
    »Wie konnte Ihnen das nur auffallen, Dave?«, entgegnete Yeremi mit aufgesetzter Heiterkeit.
    »Überhaupt scheinen Sie mir ein Mensch zu sein, der schwer Kontakt zu anderen findet.«
    »Haben Sie mich in den Wald gelockt, um mir diese Fragen zu stellen? Al ist der Psychologe in unserem Team, nicht Sie, Dave.« Yeremis Stimme klang mit einem Mal ungewöhnlich schrill. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, und in ihrem Nacken richteten sich die Haare auf. Sie fühlte sich in die Enge getrieben und wusste keinen anderen Ausweg als Schroffheit.
    »Nein, Yeremi«, erwiderte Clarke ruhig. »Ein Botaniker muss wohl mindestens ebenso gut beobachten können wie ein Seelendoktor. Wissen Sie, was ein Impatiens noli-tangere ist?«
    Yeremi blickte Clarke nur verständnislos an. Sie war viel zu aufgeregt, um über seine Frage nachzudenken.
    »So lautet die lateinische Bezeichnung für eine Mimose, die Sie möglicherweise besser unter dem Namen ›Rührmichnichtan‹ kennen. Ich musste spontan daran denken, als wir neulich vor Wachanas Haus saßen und er den Preis in die Höhe treiben wollte. Ich hatte meine Hand auf Ihren Arm gelegt, und Sie zuckten zusammen, als wäre ich statisch aufgeladen. Was ist los mit Ihnen, Yeremi?«
    Die Bäume ringsum schienen näher zu rücken. Yeremi entfernte sich unwillkürlich einen Schritt von Clarke. Obwohl er sie freundlich ansah, wich sie seinem Blick aus. Und dabei machte sie eine erschreckende Entdeckung.
    Über der Schulter des Botanikers, und nur etwa fünf Schritte dahinter, befand sich ein Gesicht.
    Es hätte eine Maske aus Ton sein können – rotbraun, unbeweglich und grimmig –, wäre da nicht dieses bedrohliche Funkeln in den Augen gewesen.
    Yeremi trat langsam einen Schritt zur Seite, spreizte die Arme leicht vom Körper ab und drehte dem Indianer die offenen Handflächen zu. Sie lächelte, herzlich, wie sie hoffte, obschon sie ahnte, wie abschreckend der erzwungene Gesichtsausdruck auf ihn wirken musste. Der Mann, der mit einem – vermutlich vergifteten – Pfeil auf sie zielte, war splitternackt.
    Es bedurfte keiner Erklärung, um auch Clarke den Ernst der Situation verständlich zu machen. Beide waren sie urwalderfahrene Forscher. Jeder konnte auf eine Reihe ähnlicher Begegnungen zurückblicken. Vorsicht und Verhandlungsgeschick gehörten zu den nun gefragten Tugenden. Wie

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