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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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verabschiedeten sich respektvoll von Saraf Argyr und verschwanden ebenso lautlos im Dschungel, wie sie gekommen waren.
    Yeremi stand noch immer unter dem Eindruck des Erlebten. Nun besaß sie also einen Beweis für die unbestimmbare Aura natürlicher Autorität, die sie wiederholt in Sarafs Nähe wahrgenommen hatte. Mehr noch als seine starke Präsenz schien aber seine Einfühlsamkeit die angeblich so blutrünstigen Atorad-Indianer bezähmt zu haben. Oder steckte mehr dahinter? Auf die nahe liegende Frage, warum er, ein geschwächter und Schmerzen leidender Mann, von seinem Krankenlager aufgestanden und zum Ort des Geschehens gelaufen war, gab Saraf die orakelhafte Antwort: »Der Wald spricht seine eigene Sprache. Wer ihm zuhört, weiß, was zu tun ist.«
    Als Leary von dem Abenteuer erfuhr, war er hellauf begeistert. Obgleich er in einer gründlichen Befragung Sarafs keine weiteren Erkenntnisse darüber gewinnen konnte, wie der Silbermann die friedliche Saite in den Herzen der Atorads angeschlagen hatte, stand für ihn die Antwort ohnehin fest: Saraf Argyr musste ein empathischer Telepath sein.
    Für Yeremi klangen Wachanas Übersetzungen erheblich weniger spektakulär. »Ich habe ihnen gesagt, wir seien als Freunde gekommen und wollten ihnen Geschenke geben. Das haben sie geglaubt«, erklärte Saraf bescheiden.
    »Aber Miss Bellman und Mr Clarke haben das, zumindest durch Gesten, doch auch zum Ausdruck gebracht. Warum waren die Atorads ihnen gegenüber so aggressiv?«, fragte Leary und hoffte wohl auf Sarafs Eingeständnis seiner empathischen Telepathie.
    »Weil sie Angst hatten?«, antwortete stattdessen der Silbermann.
    »Wer? Meine Begleiter?«
    »Die Indianer.«
    »Haben sie das gesagt?«
    »Das war nicht nötig.«
    Learys Kinn schob sich nach vorne, und seine Pupillen weiteten sich. »Interessant! Woher wussten dann Sie dann, dass die Atorads Angst hatten?«
    »Im Wald der ›stillen Jäger‹ seid ihr die Eindringlinge, Al Leary. Ihr seid mit euren Booten gekommen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Ihr seid einfach eingedrungen. Ihr tragt wunderliche Kleidung. Ihr seht auch sonst merkwürdig aus. Ihr riecht ungewöhnlich. Ihr benehmt euch absonderlich. Ihr sprecht in einer unbekannten Sprache. Die stillen Jäger haben jemanden wie Yeremi Bellman oder Dave Clarke noch nie getroffen. Alles an euch ist ihnen fremd. Und wer in der Abgeschlossenheit lebt, fürchtet das Unbekannte.«
    Leary seufzte resignierend. Als Psychologe war er natürlich mit derlei Verhaltensmustern vertraut. »Haben die Atorads irgendetwas gesagt, das ich noch nicht weiß?«
    »Nichts von Bedeutung.«
    »Ich würde gerne selbst entscheiden, was wichtig oder unwichtig ist, Saraf.«
    »Sie sagten: Die weißen Eindringlinge sind blind. Und dumm. So dumm wie Hokkohühner.«
     
     
    Obwohl Yeremi den glücklichen Ausgang der Begegnung mit den Atorads begrüßte, widerstrebte ihr die Leichtigkeit, mit der Saraf die Krieger besänftigt hatte. Waren die Indianer noch Herr ihres eigenen Willens gewesen? Oder verfügte der Silbermann tatsächlich über die Gabe, andere Menschen zu beherrschen? Wenn dem so war, warum hatte er dann die Wissenschaftler und die Wai-Wais nicht mit Leichtigkeit abgeschüttelt? Fragen über Fragen. Als die Kanus der Expedition sich am Morgen nach der seltsamen Begegnung mit den stillen Jägern wieder dem Kamoa anvertrauten, hatte Yeremi ausreichend Gelegenheit, darüber nachzudenken.
    Clarke war freiwillig ins nachfolgende Kanu umgezogen, damit der Waldläufer im Bug des Führungsbootes die Lotsenrolle übernehmen konnte. Rein optisch änderte sich dadurch wenig, weil Saraf das Zweithemd des Botanikers sowie dessen Baseballkappe zum Schutz gegen die Sonne trug. Irma Block hatte sich von Position zwei nicht vertreiben lassen, sie fotografierte den Silbermann ungefähr alle zehn Sekunden. Ab und zu schielte Yeremi an der Reporterin vorbei zu ihm nach vorne, als könne allein sein Anblick alle Rätsel in ihrem Kopf lösen.
    Sarafs Gesicht glich einem versiegelten Buch mit dem Titel »Trauer und Schmerz«. Gerne hätte Yeremi darin gelesen, die Geschichte von Fama kennen gelernt, mehr über die Rolle dieser Frau in seinem Leben erfahren, den Grund verstanden, weshalb Saraf sich das eigene Versagen nicht verzeihen mochte… Unvermittelt drehte sich der Waldmann zu ihr um – er blinzelte, weil seine Augen das helle Tageslicht kaum ertragen konnten –, und sie blickte schnell in das monotone Grün des Dschungels hinüber.
    Am

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