Der silberne Sinn
Bellman. Ich will dir glauben. Vielleicht beginnt an diesem Tag ja der neue Anfang, der uns vor langer Zeit verheißen wurde. Lass die Sonne noch einmal auf- und wieder untergehen – dann werde ich euch zur Stadt des ›Silbernen Volkes‹ führen.«
FÜHRUNGSWECHSEL
Wassarai Mountains (Guyana)
23. Oktober 2005
13.03 Uhr
»Sehen Sie den kleinen blauen Frosch dort?« Clarke blickte von der Blume auf, die eben noch seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatte, und deutete mit einer Lupe in Richtung des Geräuschs. Das kleine Tier mit den großen Augen saß auf einem umgestürzten Baumstamm. »Sein grelles Kolorit ist eine Warnung an alle hungrigen Jäger.«
»Ich finde ihn süß«, sagte Yeremi. Sie begleitete den Botaniker auf einem Ausflug in den Regenwald. Er wollte ihr einige Pflanzen zeigen, die pharmakologisch bedeutsame Substanzen enthielten. Weiter als eine halbe Meile waren sie allerdings noch nicht vorgedrungen, weil Clarke ständig stehen blieb und neue Wunder unter die Lupe nahm.
Soeben versenkte er sich wieder in die Betrachtung der bizarr geformten Blüte und murmelte lächelnd: »Das könnte ein verhängnisvoller Irrtum sein. Der Winzling trägt ein hochwirksames Gift in der Haut. Die Indianer bestreichen damit ihre Pfeile.«
»Kennen Sie den Blaufrosch-Hügel, von dem Wachana und Saraf gesprochen haben?«
»Was haben wir denn da Hübsches? Das Köpfchen eines verzauberten mythischen Vogels… Du bist eine Heliconia, gib’s zu!«, murmelte Dave nur.
Es gab Momente, in denen Yeremi sich fragte, wo die Verschrobenheit eines Menschen aufhörte und der Schwachsinn begann – und dies war einer davon. »Dave?«
Wie aus dem Schlaf gerissen, blickte er über den Rand seiner beschlagenen Brille zu ihr auf. »Der Hügel? Ja, ich kenne ihn.
Wachana hat ihn mir vor sechs Jahren gezeigt. Die Pfeilgiftfrösche tummeln sich dort, daher der Name. Ich kann verstehen, weshalb die Indianer ihn für einen magischen Ort halten, selbst ich konnte seine Ausstrahlung spüren. Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass die meisten Bäume im Umkreis eher schlank und hoch sind. Aber dort thront ein alter Bursche, den zwei Dutzend Männer nicht umspannen könnten. Als ich den Baumriesen zum ersten Mal sah, konnte ich ihn nicht bestimmen; für mich war er einzigartig. Kein Mensch weiß, wie lange er sich schon störrisch der Zeit widersetzt. Irgendwann hat ein Blitz ihn niederstrecken wollen, ihn aber nur bis zur Hälfte spalten können. Wenn man seinen Anblick auf sich wirken lässt, wie er dort aufragt über seinem Herrschersitz aus mannshohen, bemoosten Granitblöcken, dann wird man unweigerlich wieder zum Kind, das voller Zuneigung und trotzdem ehrfürchtig zu seinem Urgroßvater aufschaut.«
»Seltsam, aber Sie scheinen diesen Ort mit den gleichen Gefühlen zu assoziieren wie Saraf Argyr – er nannte ihn Ajugas Thron.«
»Was ein Indiz für den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte ist: Offenbar hat das Silberne Volk tatsächlich vor langer Zeit Beziehungen zu den Indianern nicht nur dieser Gegend unterhalten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Saraf hat dem Baumriesen am Blaufrosch-Hügel einen Beinamen gegeben. Erinnern Sie sich noch?«
»Ja, er nannte ihn… Ach, ich hab’s vergessen.«
»Ahuehuete. In der Nahuatl-Sprache bedeutet das ›der Alte vom Wasser‹, weil die knorrigen Greise es am liebsten feucht haben. Das prominenteste Exemplar kennen Sie vielleicht, den ›Baum von Tule‹, knapp zehn Meilen östlich der mexikanischen Stadt Oaxaca.«
»Ich war einmal in Santa Maria del Tule und habe ihn bewundert. Die Einheimischen nennen ihn El Gigante, ›den Riesen‹.«
»Ein botanisches Weltwunder, wenn Sie mich fragen. Ungefähr zweitausend Jahre alt! Der Riese gehört zum Geschlecht der Taxodium mucronatum…«
»Hört sich geheimnisvoll an.«
Dave schmunzelte. »Zumindest ehrfurchtgebietender als ›Mexikanische Sumpfzypresse‹. Ein Verwandter des Mammutbaums. Das Exemplar von Tule hat in Bodennähe einen Umfang von sechsundvierzig Metern. Man brauchte mindestens dreißig Personen, um die bizarren Ausbuchtungen des Stammes mit ausgebreiteten Armen zu umspannen. In seinem Schatten finden fünfhundert Menschen Platz.«
»Genug, um schlichte Gemüter nachhaltig zu beeindrucken.«
Clarke nickte. »Ich gehöre auch dazu.«
Yeremi spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Entschuldigen Sie, so habe ich das nicht gemeint.«
Den Botaniker schien ihre Verlegenheit zu amüsieren. »Kein
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