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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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in Zeitlupe tauchten weitere Bogenschützen aus dem Dickicht auf.
    »Sind das Atorads?«, flüsterte Yeremi.
    »Im Zweifelsfall ja«, antwortete Clarke ebenso leise.
    »Ich schlage vor, Sie als Mann beginnen mit dem Begrüßungsritual.«
    Clarke drehte sich langsam mit angewinkelten Armen und den Indianern zugewandten Handflächen einmal um die eigene Achse. Dann sagte er freundlich und würdevoll: »Wir kommen in friedlicher Absicht.«
    Die Indianer rührten sich nicht.
    »Sie hören sich an wie ein Außerirdischer auf Erdmission«, raunte Yeremi.
    »Die können uns sowieso nicht verstehen. Es kommt nur auf den Tonfall an«, flüsterte Clarke zurück. Sodann lächelte er wieder in Richtung der hinter Yeremi stehenden Indianer.
    »Wir haben Geschenke für euch mitgebracht.« Er streckte die Lupe in der offenen Hand einem der Atorads entgegen.
    Der Jäger zeigte kein Interesse daran.
    Clarke machte einen vorsichtigen Schritt auf den Indianer zu.
    Hektisches Geraschel von allen Seiten verriet nun die Gegenwart weiterer Indianer. Einige Giftpfeile tauchten auf und bedrohten Clarkes Gesicht.
    Der Botaniker senkte demütig den Blick und zog sich wieder neben Yeremi zurück.
    »Scheinen zwar Jäger, aber keine Sammler zu sein. Soll ich den Burschen unsere Machete anbieten?«
    »Unterstehen Sie sich, Dave! Sobald Sie das Buschmesser anfassen, werden wir mit Pfeilen gespickt.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Sie erinnern sich doch noch, was uns die Wai-Wais über die Atorads erzählt haben.«
    »Ja. Sie seien nackt, grausam und unerbittlich, wenn sie Fremde auf ihrem Territorium erwischen. Wir können nur hoffen…«
    Unversehens brach neben den beiden Wissenschaftlern ein kleiner Atorad-Indianer aus dem Dickicht hervor. Er beschimpfte sie und fuchtelte mit einer Obsidianklinge gefährlich dicht vor ihren Gesichtern herum; vermutlich war auch sie vergiftet. Yeremi zuckte immer wieder zusammen, wenn das Messer ihr zu nahe kam oder der Speichel des Cholerikers sie traf. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, bereitete ihr Übelkeit. In Gedanken spielte sie einige Szenarien von Aktion und Reaktion durch, die samt und sonders in einer Katastrophe endeten. Ihr Kopf drohte zu zerspringen. Isoliert lebende Urwaldvölker waren naturgemäß scheu, man musste mit freundlichen Gesten ihr Vertrauen gewinnen. Aber solcherlei Verständigung schienen diese Männer nur bei ihresgleichen zu dulden. Ihre Feindseligkeit war, dessen wurde sich Yeremi mit Schrecken bewusst, kompromisslos.
    Der übellaunige Zwerg zog sich unvermittelt wieder zurück.
    »Er gibt die Schussbahn frei!«, raunte Yeremi. »Ich fürchte, Dave, wir kommen hier nicht mehr lebend heraus.«
    »Wenn ich mich bücke, kann ich die Machete erreichen«, flüsterte Clarke.
    »Tun Sie das bloß nicht!«
    »Sollen wir uns einfach abschlachten lassen?«
    Es war ohnehin zu spät. Yeremi schloss die Augen. Sie wollte nicht länger die sich erneut auf ihr Ziel ausrichtenden Pfeilspitzen anstarren. Ein irrwitziger Gedanke huschte durch ihr Bewusstsein: Du bist hergekommen, um hier deine Vergangenheit abzuladen, jetzt wird dir gar nichts mehr bleiben. Zitternd erwartete sie den Schmerz…
    Aber stattdessen ertönte eine tiefe, volle Stimme. Sie klang ruhig, sogar freundlich, und trotzdem lag in ihr eine Überlegenheit, die jedes Aufbegehren im Keim erstickte.
    Yeremi riss die Augen auf. Sie hatte Saraf Argyrs charakteristisches Timbre längst erkannt. Und trotzdem wollte sie kaum glauben, dass er da zwischen ihr und den vergifteten Pfeilen stand, mit all seinen Pflastern und Verbänden. Sie verstand nicht, was er zu den Indianern sagte, aber seine maßvollen, beinahe sanften Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die feindseligen Mienen aus dem Dickicht wurden rasch freundlicher. Sogar Yeremi spürte, wie die Anspannung gleich einem schweren Umhang von ihr abfiel. Dann traten der Waldläufer und die Indianer aufeinander zu und streichelten sich gegenseitig die Gesichter, offenbar eine Geste friedlicher Übereinkunft. Die Körpersprache der Atorads wirkte fast unterwürfig.
    Endlich wandte sich Saraf zu den staunenden Forschern um und informierte sie auf Arawakisch über die aktuelle Lage. Yeremi verstand nur ein einziges Wort: »Geschenke«.
    Anschließend zeigte Saraf seinen neuen Freunden den Weg ins Lager.
    Die Wai-Wai-Indianer reagierten nervöser auf die Ankunft ihrer kriegerischen Verwandten als der Rest des Teams. Die Atorads kassierten einige Geschenke von den Forschern,

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