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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schimmernden Himmelsschale in die Höhe. Obwohl das Gesicht nicht zu sehen war, erkannte Yeremi ihn trotzdem…
    Mit einem Schrei fuhr sie hoch. Einen Moment lang glaubte sie zu ersticken und schlug wild um sich. Ihr Kopf steckte in einem feinen Gewebe…
    Im Moskitonetz. Sie saß in ihrem Zelt.
    Von draußen drangen aufgeregte Stimmen herein. So schnell es ging, schlüpfte Yeremi in ihre Jeans, schnappte sich eine Taschenlampe und lief hinaus. Aus tintenschwarzer Nacht und nervös zuckenden Lichtkegeln trat ihr Clarke entgegen.
    »Was ist los, Dave?«
    »Weiß ich nicht so genau. Möglicherweise ein zweiter Jaguar, der das Lager umschleicht. Alle sind zur gleichen Zeit aus dem Schlaf hochgeschreckt.«
    »Du hattest einen Albtraum, stimmt’s?«
    »Sag bloß, du auch?«
    »Eine Meute von Jaguaren hat dich angegriffen, angeführt von Saraf Argyr.«
    »Genau so war’s. Das gibt’s doch nicht!«
    »Was Al uns da in der letzten Nacht über die Spiegelung von Gefühlen erzählt hat – allmählich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das alles nur Hirngespinste waren.«
    Inzwischen tanzten die bleichen Gesichter ihrer Teamgefährten um sie herum, sporadisch angeleuchtet von Handlampen. Aufgeregte Stimmen sprachen durcheinander. Bald stand es fest: Derselbe Traum hatte achtzehn Personen heimgesucht – anders konnte man es kaum ausdrücken.
    Die Wai-Wais glaubten an einen Fluch, eine letzte Warnung, bevor das Unglück aus den Wassarai Mountains auf sie herniederfahren würde. Sie wollten zurück nach Gunn’s Strip, am besten gleich. Nur mit Mühe konnte Yeremi ihren Anführer ein weiteres Mal zum Zuhören bewegen.
    »Denk doch mal nach, Wachana! Die wenigsten Wunder unserer Welt sind das Werk von Geistern. Erinnere dich an die Flugzeuge – früher habt ihr sie für Boten der Götter gehalten. Oder das Fernsehen, auf das heute kaum jemand von euch verzichten mag – der Kasten war für euch früher eine Brutstätte schlimmster Dämonen. Selbst meine kleine Photonenpumpe, diese Halbleiterkristalllampe, deren Energie nie zu erlöschen scheint, haben einige in eurem Dorf noch vor wenigen Tagen für einen Götterfunken gehalten. Auch für unseren Traum heute Nacht gibt es eine normale Erklärung. Wir müssen sie nur finden.«
    »Und wenn diese Erklärung uns sagt, dass wir sterben müssen?«, erwiderte Wachana trotzig.
    »Es sind nicht die Träume, die uns töten, Wachana, sondern höchstens die eigene Unvernunft. Ich habe dich bis jetzt für einen sehr klugen Mann gehalten.«
    »Wachana ist klug.«
    »Dann sage deinen Brüdern, dass sie nichts zu befürchten haben.«
    »Das wird ihnen nicht genügen.«
    »Du meinst, weil ich eine Frau bin und sie…«
    »Nein, Yeremi, das haben sie geschluckt.«
    »Ah! Ich verstehe.« Yeremi musste unwillkürlich lachen. Sie sah den Vertreter des Hauptsponsors an, Al Leary, der neben Wachana stand. Der Psychologe stöhnte leise, nickte dann aber doch. »Also gut«, sagte Yeremi. »Ihr bekommt einen weiteren Zuschlag von fünfundzwanzig Prozent, wenn ihr bei uns bleibt, bis die Expedition ihren Zweck erfüllt hat oder wir euch nach Hause schicken.«
    »Fünfzig Prozent.«
    »Zwanzig.«
    Ein schelmisches Lächeln stahl sich auf Wachanas Lippen. »Ich werde mit meinen Brüdern sprechen.«
    »Die sind ja hundertmal schlimmer als die Händler in einem türkischen Basar«, klagte Leary, als Wachana außer Hörweite war.
    »Das mag stimmen, aber zumindest hier sind sie auch hundertmal nützlicher. Mal ehrlich, Al, was will Saraf mit diesem Traum bezwecken?«
    Learys Augenbrauen hoben sich. »Sag bloß, du glaubst mir endlich!«
    »Erst wenn du mir eine plausible Erklärung dafür lieferst, wie der Waldmann uns gestern den Traum einpflanzen konnte, obwohl er bewusstlos war.«
    »Schade«, sagte der Psychologe enttäuscht. »Aber sogar du wirst Sarafs empathische Gabe irgendwann nicht mehr leugnen können. Möglicherweise ist es ja gerade sein Unterbewusstsein, das uns die Träume schickt. Auf ihn prasseln, wie bei jedem Menschen, pro Sekunde an die sechshunderttausend Informationseinheiten nieder, und wenn er nur halbwegs normal ist, kann er gerade zwanzig davon bewusst wahrnehmen. Er will etwas vor uns verbergen, so viel steht fest, und deshalb setzt er – ob nun vom Verstand gesteuert oder nicht – seine außergewöhnliche Gabe ein, um uns von diesem Ort zu vertreiben.«
    Yeremi zog ein finsteres Gesicht. Es widerstrebte ihr, Leary Recht zu geben, aber er hatte eine überzeugende Erklärung

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