Der silberne Sinn
Nachmittag rückten die Flussufer immer enger zusammen. Regenwolken zogen heran. Wieder einmal. Die Wai-Wai-Indianer wurden zusehends unruhig, und Yeremi wusste auch, warum. Die Quelle des Kamoa konnte nicht mehr fern sein. Sie hatten nun jenen Teil der Wassarais erreicht, in dem die Geister wohnten.
Saraf deutete den Fluss hinauf. Yeremi beschirmte ihre Augen mit der Hand und entdeckte eine lichte Stelle am Nordufer.
»Dort werden wir die Boote lassen und unser Lager aufschlagen«, übersetzte Wachana die Anweisung des Silbermannes.
»Aber wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht…« Yeremi verstummte, weil ihr unvermittelt klar wurde, was sie dem Waldmann ohnehin schon abverlangte. »Entschuldigen Sie bitte, Saraf. Ich habe nicht an Ihre Verletzungen gedacht.«
»Doch, das hast du, Yeremi Bellman. Gerade eben – und dafür danke ich dir. Ich bin sehr müde. Außerdem wird der Himmel diesen Fluss sowieso bald in einen fauchenden Drachen verwandeln.« Saraf deutete nach Nordwesten, wo Wolkenberge das vollkommene Blau des Himmelsgewölbes verbargen. Dumpf dröhnend rollten sie auf die Boote zu, mit den schwefelgelben Farbtönen eines Wetterleuchtens.
Yeremi nickte und wandte sich zu ihrem Steuermann um. »Halt bitte aufs Ufer zu, Wachana, genau da, wo Saraf es dir zeigt.«
Der Indianer nahm Kurs auf eine kleine Bucht in einer Flussbiegung. Als er argwöhnisch zum Himmel blickte, schien der Silbermann seine Gedanken zu erraten.
»Zieht bitte die Boote weit aufs Land, sonst wird der Drache sie fressen«, sagte Saraf.
»Erwartet Saraf Schlimmeres als den normalen Nachmittagsschauer?«, erkundigte sich Yeremi.
»Ja«, antwortete Wachana, ohne die Frage zu übersetzen. »Bei schwerem Regen kann der Kamoa zehn Meter oder mehr ansteigen. Dann ertrinkt der Wald.«
Yeremi schluckte. »Wir wollen kein Risiko eingehen. Schleppt die Kanus so tief in den Wald, wie es nötig ist, und dann noch einen Bogenschuss weiter.«
Wachana übermittelte die Anweisungen lautstark an seine Stammesbrüder.
»Wie weit müssen wir morgen noch den Fluss hinauffahren?«, fragte Yeremi den Silbermann. Mit der Linken hielt sie ihre geflochtene Schirmmütze fest, die eine heftige Windbö ihr entreißen wollte.
»Überhaupt nicht mehr. Von hier aus werden wir zu Fuß weitermarschieren.«
Während Saraf dies sagte, zerplatzte ein erster schwerer Regentropfen auf Yeremis Hand. Dunkle Wolken läuteten vorzeitig die Nacht ein.
In aller Eile wurden die Kanus entladen und mit dem Gepäck in den Wald gebracht. Als der Himmel die Schleusen öffnete, war das Lager noch nicht aufgeschlagen. Sarafs Einschätzung der Wetterlage traf ein, wahre Sturzfluten ergossen sich über die Expedition. Das Blätterdach hielt zwar die zerstörerische Wirkung des Platzregens für den Wald in Grenzen, aber die Menschen waren im Nu bis auf die Haut durchnässt.
Das Lager wurde ungefähr eine Viertelmeile vom Ufer entfernt aufgeschlagen. Die Maruwanaru-Brüder rammten in Windeseile Pflöcke in den feuchten Boden und zogen Planen darüber, um ein provisorisches Dach zu schaffen. Derweil zurrten die anderen Wai-Wai-Indianer die Kanus mitsamt Ausrüstung an Bäumen fest. Die übrigen Mitglieder des Teams brachten kleinere Gepäckstücke in Sicherheit. Nur Saraf Argyr war die Ruhe selbst. Er stand abseits und beobachtete mit dem Gleichmut eines Riesen die ihn umgebende Betriebsamkeit. In der Rechten hielt er das geborgte Hemd und die Mütze; die Sonne konnte seiner ungewöhnlich hellen Haut nun nichts mehr anhaben.
Yeremi glaubte zu ahnen, was dem Silbermann durch den Kopf ging. Die Fremdlinge standen nun an der Grenze seines Reichs und die eigenen Leute an der Schwelle einer neuen Zeit. Jahrhunderte der Isolation nahmen ein Ende. Es würde nicht leicht werden für das Silberne Volk.
Am Morgen nach dem Unwetter strahlte die Sonne von einem azurblauen Himmel. Yeremi erteilte die Anweisung zum Aufbruch.
Die Indianer hatten für den Transport Tragegestelle aus turu, den Blättern der Oenocarpus-Palme, geflochten. Darin konnten sie über Stunden vierzig bis fünfzig Kilogramm Ausrüstung tragen. Die übrigen Teilnehmer der Expedition schleppten vergleichsweise leichte Rucksäcke. Niemand wollte allerdings Saraf Argyr eine Last aufbürden.
Doktor Lytton hatte dem Silbermann wie jeden Tag vor dem Frühstück eine Penicillintablette gegeben, seine Wunden versorgt und sich einmal mehr über deren schnelle Heilung gewundert. Sogar die schlimmen Verletzungen
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