Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
oberhalb der linken Hüfte und an der Schulter würden ihm bald keine Schmerzen mehr bereiten. Während der Arzt – nach nur vier Tagen! – sämtliche Fäden zog, schüttelte er unablässig den Kopf.
    »Hätte ein Kollege mir vor einer Woche diese Therapie vorgeschlagen, wäre ich wahrscheinlich zur Ärztekammer gelaufen, damit sie ihm die Zulassung entziehen.«
    Saraf dankte Lytton für seine hervorragende Arbeit und sagte, er sei selten einem so tüchtigen Heiler begegnet.
    Kurze Zeit darauf bewegte sich der Silbermann mit dem aufrechten Gang eines Königs durch den Wald, als hätte es den Angriff des Jaguars nie gegeben. In seinem Gefolge gab es etliche überraschte Mienen, weil er nicht ein einziges Mal stehen blieb, um sich zu orientieren. Seine Zielstrebigkeit nährte in vielen Köpfen den Verdacht, er folge einer lückenlosen Kette von Wegweisern, die für seine Begleiter unsichtbar waren. Im Vergleich zu Saraf wirkten die Wai-Wais mit ihrem sensationellen Gespür für die Natur wie Jungpfadfinder. Aus nahe liegenden Gründen behielt Yeremi nicht nur Saraf, sondern auch die immer stiller werdenden Indianer im Auge, denen die schlafwandlerische Sicherheit des Silbermannes alles andere als geheuer zu sein schien.
    Der unsichtbare Pfad, dem er gemessenen Schrittes folgte, führte stetig bergan. Die Lastenträger konnten nicht so elegant wie er durch das Dickicht gleiten, obwohl er nach Möglichkeit einen Weg wählte, der ihren Macheten wenig entgegensetzte. Manchmal glaubte Yeremi allerdings, seine Rücksicht gelte eher den Pflanzen des Waldes als den schwitzenden Expeditionsteilnehmern. Wiederholt beobachtete sie ihn dabei, wie seine Finger im Vorübergehen sanft über ein Blatt, eine Blüte oder die Rinde eines Baumes strichen, als entbiete er ihnen einen stillen Gruß. Oder gab es einen Zusammenhang zwischen diesen Berührungen und seinem verblüffenden Orientierungssinn?
    Das Waten durch Bäche, Klettern über entwurzelte Bäume und Stolpern durch Lianengewirr kostete viel Kraft. Yeremis Lauftraining machte sich bezahlt. Mit Rücksicht auf die anderen legte sie trotzdem nach zwei Stunden eine Pause ein. Etwas abseits der Gruppe ließ sie sich auf einen umgestürzten Stamm sinken und blickte zum grünen Gewölbe des Waldes empor. Nach einer Weile hörte sie Schritte. Es war Clarke, der sich vorsichtig näherte, das Satellitennavigationsgerät in der Rechten.
    »Sollte unser GPS noch funktionieren, dann bewegen wir uns derzeit von Süden her auf die höchste Erhebung der Wassarais zu«, sagte er.
    Yeremi wischte sich energisch Schweiß, Spinnweben und Zecken aus dem Gesicht. »Gemäß den Satellitenfotos liegt dort unser Zielgebiet.«
    »Der Berg weist in der Karte eine Höhe von elfhundertfünfunddreißig Metern auf. Wäre vielleicht sinnvoll, wir schlagen unten ein Basislager auf und lassen uns von Saraf zum Eingang der Höhlen hinaufführen.«
    »Guter Vorschlag, Dave. Können wir den Lagerplatz beim jetzigen Tempo heute noch erreichen?«
    »Es sind vielleicht noch drei bis fünf Meilen Luftlinie, aber du weißt ja, was das hier bedeutet.«
    Yeremi nickte. Sie stemmte sich vom Baumstamm hoch und drehte sich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen im Kreis, bis sie die Orientierung verloren hatte. Als sie endlich verharrte, entdeckte sie einen unruhig wankenden Botaniker, der sie skeptisch musterte.
    »Alles in Ordnung, Yeremi?«
    »Schauen Sie mich nicht so entgeistert an, Dave. Jeder von uns braucht seine entrückten Momente, nicht nur Sie. Mir ist nur gerade bewusst geworden, wie hoffnungslos wir uns in diesem Pflanzengeschling verheddern könnten. Angenommen, die Satellitennavigation lässt uns tatsächlich im Stich – was Sie ja anscheinend befürchten – und Saraf Argyr löst sich plötzlich in Luft auf, dann sind wir Gefangene des Waldes. Einem unberechenbaren Organismus ausgeliefert, der uns unserer zivilisierten Existenz beraubt. Wie schnell kann man sich darin verlieren! Halten Sie es für möglich, dass in fünfhundert Jahren jemand hier vorbeikommt und über einen unserer Nachkommen staunt?«
    Clarkes Brille war wieder einmal beschlagen. Er schielte über den Rand und fragte: »Reden Sie jetzt von den Kindern des Expeditionsteams im Allgemeinen oder von unseren im Besonderen?«
    Die verklärte Stimmung fiel jäh von Yeremi ab. Ihre Augen verschossen Blitze. »Vergessen Sie, was ich eben gesagt habe.«
    Hastig entfernte sie sich von dem verwirrt dreinblickenden Botaniker. Am Rande des

Weitere Kostenlose Bücher