Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
er, waren sie dennoch beeindruckende Erscheinungen. Die Farben ihrer Wickelröcke variierten, aber ihr Stil war einheitlich.
    Dann begann Saraf zu sprechen. Leary winkte eilig Wachana herbei.
    »Als Hüter des Silbernen Volkes«, übersetzte der Indianer den arawakischen Gruß, »heiße ich euch in unserem Reich willkommen. In der vergangenen Nacht hat unser ›Großer Rat‹ darüber abgestimmt, ob wir aus unseren Höhlen fortziehen oder die Fremden gastfreundlich aufnehmen sollen. Mit knapper Mehrheit haben die Ältesten meinem Vorschlag zugestimmt, euch als unsere Gäste zu begrüßen.«
    In Yeremis Erinnerung fielen einige Mosaiksteinchen endlich an den richtigen Platz. Sie trat aus dem Kreis ihrer Begleiter hervor und fragte laut: »Hat das Gericht des Silbernen Volkes auch über seinen König entschieden?«
    »Wir haben keinen König außer Gott. Als Ältester im Großen Rat unseres Volkes bekleide ich das Amt des Hüters. Auf deine Frage, Yeremi Bellman, kann ich mit Ja antworten. Das Gericht fand bei mir keine Schuld an Famas Tod.«
    »Dann sollten endlich auch Sie das Urteil annehmen, Saraf Argyr.«
    Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht des Silbermannes, und seine traurigen blauen Augen schienen für einen Moment durch Yeremi hindurchzublicken. Sie allerdings glaubte, er sähe mitten in sie hinein. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen, dann nahm seine Miene wieder den würdigen Ausdruck an, den sein Amt ihm auferlegte.
    »Ich habe dir im Licht des Mondes versprochen zurückzukehren, wenn du mir hilfst, mein Volk auf diese Begegnung vorzubereiten. Nun erfülle ich mein Versprechen. Seid ihr bereit, uns auf das ›Dach des Waldes‹ zu begleiten?«
    Yeremi holte tief Luft und nickte. »Wir sind bereit.«
     
     
    Der Aufstieg war beschwerlich. Auch die größte Erhebung der Wassarai Mountains lag unter einer Decke üppiger Vegetation. Nur hier und da ragten einzelne Felsen daraus hervor. Von einem Pfad konnte nicht die Rede sein. Das Silberne Volk schien nur selten ins Tal hinabzusteigen.
    »Achtung, Holz!«, warnte Wachana, wenn ein Ast zu tief hing. Der Indianer hatte ungemein scharfe Augen. Er konnte eine perfekt getarnte Wolfsspinne erkennen, wo andere nur Blätter sahen. Die Wai-Wais besaßen eine instinktive Vertrautheit mit der Natur. Eigentlich haben die Indianer bis vor kurzem die Expedition geleitet, dachte Yeremi, der es so vorkam, als sei sie selbst nur zufällig dabei. Nun allerdings befanden die Indianer sich in Konkurrenz mit den Silbernen, die sich mindestens ebenso sicher im Wald bewegten, wenngleich sie wenig Neigung zeigten, ihre Gäste vor Ästen oder Spinnen zu warnen.
    Saraf hatte die ihn begleitenden Mitglieder des Großen Rates als Agando, Bentamor, Hupalpa und Ugranfir vorgestellt. Während die ersten drei eine feierliche Verbindlichkeit an den Tag legten, begegnete Ugranfir den Fremdlingen mit offenem Misstrauen. Wie sich bald herausstellte, hatte er im Rat gegen Saraf gestimmt.
    Yeremis Abordnung bestand aus Leary, Block, Greenleaf, Hamilton-Longhorne, Sose und Wachana sowie den beiden Maruwanaru-Brüdern. Die anderen Forscher mussten im Hauptcamp die psychologische Betreuung der zurückgebliebenen Träger übernehmen. Saraf und seine Ratsbrüder hatten den Wai-Wais einen gehörigen Schrecken eingejagt. Es war nicht auszuschließen, dass sich die abergläubischen Indianer bei nächster Gelegenheit »von der Truppe absetzen würden«, wie Percey Lytton es ausgedrückt hatte.
    Gegen Mittag erreichte die Gruppe eine zerklüftete Felswand, die etwa dreißig Meter steil aufragte, um dann in einem Überhang zu enden. Jenseits des steinernen Vorsprungs war nur blauer Himmel zu sehen. Ungefähr zwei Drittel des Aufstiegs lagen nun hinter ihnen.
    Yeremi fühlte sich seltsam euphorisch. Obwohl sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, war jede Mattheit von ihr gewichen. Sie überprüfte zum wiederholten Mal die geografische Position auf dem GPS, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Sie befanden sich in unmittelbarer Nähe der Höhlen des Orion.
    Neben ihr fluchte Leary, weil ein Insekt mit großer Beharrlichkeit auf seiner Nase zu landen versuchte und sich mit keinerlei Drohgebärden verscheuchen ließ. Plötzlich huschte eine Hand durch die Luft, und der kleine Flugkünstler war verschwunden.
    Wachana grinste.
    »Danke«, knirschte Leary, zog die Armeemütze vom Kopf und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Während er die Felswand

Weitere Kostenlose Bücher