Der silberne Sinn
Gesichtsfeldes entdeckte sie eine reglose Gestalt. Es war Saraf Argyr, der wie versteinert neben einem Baum stand.
Am Abend wirkte selbst Wachana alt; er sah nun aus wie der Greis, der er einmal sein würde. Stunden des Laufens, Schwitzens und Stolperns lagen hinter ihm. Er und seine Stammesbrüder waren jedoch zäh. So kraftlos sie sich auch fühlten, am nächsten Morgen würden sie wieder energiegeladen durch den Wald marschieren. Bei den Besuchern aus der so genannten Zivilisation mündete die körperliche Erschöpfung leicht in eine Stimmung unergründlicher Verlorenheit. Auch Saraf Argyr war von den Strapazen des Tages gezeichnet, aber er schien dennoch frischer als alle anderen zu sein.
»Geht es nicht jedem so, wenn er nach langer Zeit endlich wieder nach Hause kommt?«, sinnierte Irma, als Yeremi der Fotografin ihre Beobachtungen mitteilte. Die Frauen saßen nebeneinander auf einer Schlafmatte und beobachteten das Geschehen im Camp.
»Manche Menschen zeigen sich auch euphorisch, bevor sie einen tollkühnen Plan ausführen«, murmelte Yeremi. Ihre Augen suchten den Silbermann und fanden ihn am Rand des Lagers, wo er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden hockte und ernst vor sich hinblickte. Seine weiße Haut leuchtete im Zwielicht der Dämmerung.
Der Auslöser von Irmas Digitalkamera klickte vier- oder fünfmal. »Ich wette, auf den Bildern sieht er aus wie hineinretuschiert.«
Überrascht runzelte Yeremi die Stirn. Die Äußerung der Reporterin hatte ihre Aufmerksamkeit auf jenen Teil von Sarafs Wesen gelenkt, der ihn aus ihrer gewohnten Sicht der Wirklichkeit heraushob.
Da traten drei Indianer aus dem Dickicht. Sie hatten den Silbermann kurz nach der Ankunft um Erlaubnis gebeten, in seinem Reich jagen zu dürfen. Er gestand ihnen so viel Beute zu, »wie sie an einem Abend essen konnten«. Kayanama Ayaw trug zwei erlegte Nabelschweine über der Schulter.
Yeremi erhob sich von der Matte. »Ich werd mal rübergehen und unsere kleinen Helfer für ihren Fleiß und ihre Tapferkeit loben. Sie können’s gut gebrauchen, glaube ich.«
Irma nickte. Nachdenklich sah sie Yeremi hinterher.
Die Nacht hatte das Lager mit einem weichen Überwurf aus Geräuschen zugedeckt. Der Mond ließ die Ränder der Wolken erglühen.
Die Luft war schwül. Yeremi konnte nicht schlafen. Sie lag zwischen Irma Block und Abbatissa Hamilton-Longhorne unter einem behelfsmäßigen Regenschutz. Vereinzelte Tropfen klatschten noch auf die Plastikplane. Um sich herum hörte sie den regelmäßigen Atem der anderen. Die Erschöpfung zog selbst die Indianer mit unwiderstehlicher Kraft hinab ins Meer der Träume. Norryl Unsworth schnarchte wie eine Motorsäge.
Mit einem leisen Seufzer setzte sich Yeremi auf. Sie schlüpfte in ihre Stiefel. Vielleicht würde sie einschlafen, wenn sie sich ein wenig die Beine vertreten hatte. Bevor sie mit ihrer Taschenlampe unter dem Moskitonetz hervorkroch, rieb sie sich Arme und Gesicht mit Insektenschutzmittel ein.
Aaron Maruwanaru saß am Rand des Lagers und hielt Wache. Seine Bluejeans leuchteten matt im Mondlicht. Unterhalb der Knie schienen Aarons Beine zu fehlen, weil die schmutzigen Gummistiefel keinerlei Licht reflektierten.
»Alles okay, Ma’am?«, fragte er.
»Alles okay«, erwiderte Yeremi leise. »Was macht Saraf Argyr?«
»Er schläft dort in den Farnen.« Aaron deutete auf eine dunkle Stelle, die Yeremi in den Schatten des schwachen Lichts unmöglich als menschlichen Körper hätte deuten können.
»Werde mal zwei, drei Schritte in den Wald gehen.«
»Aber nicht zu weit, Ma’am!«
»Ich bleibe in Rufweite.«
Der Indianer nickte.
Yeremi stapfte ein Stück in das Dickicht hinein. Da, wo kein Mondlicht durch die Baumkronen fiel, schaltete sie ihre Handlampe ein. Außer Reichweite von Aarons wachsamen Blicken lehnte sie sich an einen fahl schimmernden Stamm und sah durch eine Lücke im Blätterdach zum Erdtrabanten hinauf.
Sie leuchten im Mondlicht wie Silber. So hatte ein Schamane der Wai-Wais die Geister beschrieben, die angeblich in den Wassarai-Bergen wohnten…
Ein leises Knacken ließ Yeremi aufhorchen. Plötzlich streifte ein Schatten ihr Gesicht, und sie schreckte zusammen.
Vor ihr stand Saraf Argyr.
Yeremi war wie elektrisiert. Ihre Augen wanderten nach oben, über den goldenen Anhänger auf seiner Brust und das Perlenhalsband, und verharrten schließlich wie gebannt auf seinem Gesicht. Ein leichtes Schwanken ihres Körpers hätte genügt, um ihn zu berühren.
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