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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dazu bewegen, sich unseren Erwartungen anzupassen. Also halt am besten den Mund, und nimm das Gesamtbild in dich auf! Vielleicht beginnst du dann zu verstehen.«
    Learys graublaue Augen hielten ihrem frostigen Blick stand. Sein Gesicht hätte ebenso gut aus Stein sein können. Leise, aber unüberhörbar drohend, sagte er: »Du solltest den Bogen nicht überspannen, Jerry.«
    Sie wandte sich abrupt ab und verwandelte sich für die Silberfrau zurück in die aufmerksame und respektvolle Besucherin, die es kaum erwarten konnte, endlich das Reich des Silbernen Volkes zu sehen. »Wir betrachten es als eine große Ehre, euer Zuhause kennen zu lernen, Adma.«
    Die Gastgeberin lauschte aufmerksam den Erklärungen des Dolmetschers, deutete sodann mit einem einladenden Nicken in die Höhle und ging voran. Yeremi folgte ihr dichtauf, dann Wachana, Leary, Irma und all die anderen. Jeder Neugierige, der zufällig die Spalte hinter dem Busch entdeckte, würde unweigerlich das Skelett in dem engen Höhlenraum anstarren, erschauern und – weil er eine Falle vermutete – unverzüglich kehrtmachen und das Weite suchen. Den eigentlichen Eingang zu den Höhlen des Orion würde er so zwangsläufig übersehen. Leary bezeichnete diese Art der Abschreckung als klassisches Beispiel angewandter Empathie.
    Wenn der Eingeweihte den »Vorraum« betrat und sich vor dem Skelett im Uhrzeigersinn um knapp einhundertachtzig Grad drehte – Gevatter Tod also den Rücken zuwandte –, konnte er das Tor zum Reich des Silbernen Volkes unmittelbar links neben dem Ausgang sehen; für die Hereinkommenden lag es dagegen scharf rechts in einem schwer einsehbaren Winkel. Ihnen bot sich der Anblick eines großen Monolithen, der die Funktion einer Pforte erfüllte. Der aufrecht stehende Block fügte sich harmonisch in seine Umgebung ein. Nichts ließ seinen eigentlichen Zweck erkennen. Er lagerte, perfekt austariert, auf einem Gelenk. Mit einer Hand konnte Adma den Stein bewegen und damit das Tor öffnen.
    »Das ist doch nicht möglich!«, staunte Yeremi.
    Wachana starrte die Silberfrau an, als sei er soeben einer Göttin begegnet. Stotternd übersetzte er.
    Adma ließ ihn nachsichtig aussprechen, lächelte sodann und erklärte: »Wir benutzen Gegengewichte, um die Tür leichter zu machen. Was ihr seht, ist übrigens kein Fels, sondern Holz, genauer gesagt, Baumrinde. Den Anschein einer steinernen Beschaffenheit erzielen unsere Handwerker durch eine besondere Behandlung mit Pflanzensäften. Wegen des Skeletts nennen wir sie allerdings die ›Knochenpforte‹.«
    Yeremi schüttelte verblüfft den Kopf. »Besser könnten es die Special-Effects-Leute in Hollywood auch nicht hinkriegen!«
    Der Indianer sah sie verständnislos an.
    Sie grinste. »Schon gut, Wachana. Sage Adma bitte, ich empfinde große Bewunderung für die Kunstfertigkeit des Silbernen Volkes.«
    Er übersetzte, und die Silberfrau nickte dankend. Hierauf deutete sie ins dunkle Innere der Höhle.
    Hinter Yeremi ertönte jäh ein lautes Knistern und Rauschen. Unwillig drehte sie sich zu Leary um.
    »Du kannst das Walkie-Talkie getrost ausschalten und die Batterien schonen. Wir betreten jetzt eine andere Welt, in der es dir nichts nützen wird.«
     
     
    Nur wenige Schritte hinter dem falschen Monolithen wurde die Luft spürbar kühl und klamm. Der stark abschüssige, dunkle Stollen bot keinerlei Anzeichen menschlicher Bearbeitung. Er war alles andere als einladend. Wachana hielt sich enger an Yeremis rechter Seite, als ihr lieb sein konnte. Krampfhaft blickte er auf die vorausgehende Silberfrau, die nurmehr ein bleicher Schemen war, der allzu leicht entschwinden konnte. Bereits nach der ersten engen Biegung fragte sich Yeremi, wie lange sie Adma noch würde sehen können. Es folgten kurz hintereinander zwei weitere Kehren, und plötzlich änderte sich alles.
    Unvermittelt befand sich die Gruppe in einem fantastischen unterirdischen Reich. Yeremi – und nicht nur sie – war von dem überraschenden Wandel der Umgebung geradezu überwältigt. Selbst Al Learys kühne Erwartungen wurden übertroffen. Der Tunnel weitete sich zu einem lichten, großzügig dimensionierten Gang, der von der hohen Fertigkeit seiner Erbauer kündete. Soweit Yeremi das im matten Licht der Wandlampen beurteilen konnte, besaß er einen perfekten quadratischen Querschnitt. Er war etwa drei Meter hoch und ebenso breit. In Augenhöhe verlief ein erhabener Fries, der sich rot vom glatten weißen Untergrund abhob und allerlei

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