Der silberne Sinn
Seine Nähe bereitete ihr Unbehagen, aber sie konnte nicht fliehen. Es wäre ihr wie ein Vertrauensbruch vorgekommen. Ihr Körper befand sich in einem Schwebezustand der Unentschlossenheit. Sie glaubte seine Wärme zu spüren, konnte seinen Geruch wahrnehmen, den Duft von Farnen, der sich – nicht unangenehm – mit seinen maskulinen Ausdünstungen mischte. Yeremi öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder. Ihr Arawakisch war jämmerlich und ihre Gedanken ohne klare Struktur. Gefühle und Fragen verwirrten sich in ihrem Kopf zu einem unlösbaren Knäuel. Würde der Silbermann sich davonschleichen und allem entziehen? Zu ihrer Verblüffung entdeckte sie in ihren aufgewühlten Emotionen auch Angst um das Silberne Volk. Im Zeitalter satellitengestützter Navigation war es Sarafs Sippe unmöglich, weiterhin im Verborgenen zu leben. Selbst dann nicht, wenn er die Seinen warnte und sie alle Expeditionsteilnehmer auslöschen würden…
Leise und eindringlich begann der Silbermann auf Yeremi einzureden. »… Rat… Gericht… zurückkehren…«
Gerade drei Worte konnte sie aus seinen ernsten Erklärungen herausfiltern, zu mehr reichten ihre Sprachkenntnisse nicht. Zur Interpretation blieben ihr nur sein Tonfall – ernst, aber nicht drohend, kraftvoll, aber nicht zwingend – und vage Vermutungen. Was hatte er sagen wollen? Etwa: »Ich gehe zu meinen Leuten, damit ich mit ihnen Kriegsrat halten, über euch zu Gericht sitzen und alsbald zur Vollstreckung des Urteils zurückkehren kann.« Oder: »Ich weiß mir keinen anderen Rat, als zunächst an einem einsamen Ort mit mir selbst ins Gericht zu gehen; danach entscheide ich, ob ich zu euch zurückkehren werde.«
Saraf schien ihre Verwirrung zu spüren, denn er fügte noch eine weitere Bemerkung hinzu, die Yeremi allerdings mehr als alles vorher Gesagte aus der Fassung brachte, weil er sich hierzu der englischen Sprache bediente. »Hilfe!«
Binnen Sekunden war Saraf Argyr im finsteren Dickicht des Waldes verschwunden. Obwohl sie ihn längst nicht mehr sehen konnte, blickte Yeremi ihm noch lange nach. Hier, im sanften Licht des Halbmondes, glaubte sie noch immer seine Gegenwart zu spüren. Hinaus in die Dunkelheit zu treten hieß, diesen Augenblick zu vergessen. So lehnte sie an dem Stamm, wurde mehr und mehr eins mit ihm, und bald schien es ihr unmöglich, sich jemals wieder davon zu lösen.
Hilfe! Woher hatte der Silbermann dieses Wort? Gehörte es, ebenso wie das Arawakische, zum überlieferten Erbe seines Volkes? Sowohl die Niederländer als auch die Briten hatten in Guyana Spuren hinterlassen.
Aber nach allem, was Yeremi zu wissen glaubte, lebte das Silberne Volk schon seit Generationen völlig zurückgezogen im Regenwald. Wäre es anders, hätten die Chroniken der niederländischen Händler oder der britischen Entdeckungsreisenden bestimmt von ihnen berichtet. Aber so war es nicht. Saraf musste dieses englische Wort – und möglicherweise weitere – anders erworben haben.
So angestrengt Yeremi auch nachdachte, sie konnte sich doch nicht entsinnen, ob und wann das Wort »Hilfe« in den Gesprächen mit ihm gefallen war. So viel stand fest: Saraf hatte sich nie wie ein primitiver Dschungelbewohner verhalten. Seine Kenntnisse des Arawakischen wie auch der Sprache der Atorad-Indianer zeigten sein geistiges Vermögen. Zweifellos konnte ein Mann von solcher Auffassungsgabe im Laufe einiger Tage etliche Sprachfetzen aufschnappen und sich ihre Bedeutungen erschließen.
Oder war Saraf Argyr doch nur ein Zivilisationsflüchtling mit schauspielerischer Begabung, dessen Wiege in der New Yorker Bronx, dem Londoner Soho oder an den Grachten Amsterdams gestanden hatte?
Yeremi machte sich von dem Baum los. Auf dem Rückweg zum Lager ließ sie ihre Taschenlampe eingeschaltet, damit Aaron Maruwanaru sie nicht versehentlich mit einem Hokkohuhn verwechselte und Pfeile auf sie abschoss. Schläfrig blickte er ihr entgegen.
»Alles okay, Ma’am?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete sie.
Es hätte wenig Sinn gehabt, das ganze Lager aufzuwecken. Wenn nicht einmal Maruwanaru den Aufbruch des Silbermannes bemerkt hatte, wie sollten sie Saraf dann des Nachts verfolgen oder gar wiederfinden? Während sich Yeremi unruhig auf ihrer Schlafmatte hin und her wälzte, sann sie über die merkwürdige Begegnung im Mondlicht nach. Immer noch trug sie Sarafs schweren Duft in der Nase. Wann hatte sie zum letzten Mal einem Mann erlaubt, ihr so nahe zu sein? Warum war sie nicht sofort
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