Der silberne Sinn
geflohen? Schon die Erinnerung an seine Nähe beunruhigte sie. Selbst jetzt noch fühlte sie sich von ihm berührt, obwohl er sie kein einziges Mal angefasst hatte. Ein verwirrendes Gefühl! Vergeblich versuchte sie, den Nachhall jener Vertrautheit einzuordnen, die sie im Mondlicht hatte verharren lassen, obwohl alles in ihr dagegen aufbegehrte. Sarafs Körper glühte wie Silber, eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die ihn für Yeremi gefährlich machte. Könnte er den Wachposten mit Blind- und Taubheit geschlagen haben – oder gar sie selbst? Je länger sie darüber nachdachte, desto absurder erschien ihr dieser Gedanke.
Hilfe! War das eine Bitte um Beistand oder als Ankündigung zu verstehen gewesen? Auch diese Frage vermochte Yeremi sich nicht zu beantworten. Sie hatte keinen Alarm geschlagen und ihm damit auf jeden Fall geholfen. Al Leary hätte Saraf bestimmt mit der Flinte verfolgt, um seinen Weißen Gott nicht wieder zu verlieren.
Yeremi nutzte das gemeinsame Frühstück zu einer Lagebesprechung. Wie meistens, wenn sie einen vermeintlich schwierigen Sachverhalt erklären musste, lief sie vor ihren Zuhörern auf und ab. Als sie auf das Verschwinden Sarafs zu sprechen kam, erntete sie verständnislose Blicke.
Der Astroarchäologe Gil Burne stieß einen leisen Pfiff aus. »Gratulation, Boss! Sie haben unser missing link einfach ziehen lassen!«
»Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus, Gil. Sie hätten sehen sollen, wie schnell und lautlos der Silbermann im Dschungel verschwunden ist! Selbst Aaron hätte ihn nicht zurückhalten können.«
»Er hat ihn ja nicht bemerkt.«
»Ach, und Sie hätten ihn wieder eingefangen?«
Burne schwieg.
Dafür knurrte jetzt Leary: »Du hättest uns trotzdem informieren müssen, Jerry.«
»Und wie nennst du das, was ich gerade tue, Al?«
»Jetzt ist es zu spät. Ich werde McFarell anrufen müssen und ihm von deinem Fehler berichten.«
»Ah, jetzt wird mir einiges klar! Er und Flatstone haben dich als Aufpasser mitgeschickt. Wenn die kleine Jerry nicht spurt, beißt ihr der Terrier in die Wade…«
»Sei nicht albern, Jerry! Es steht zu viel auf dem Spiel, um dieses Unternehmen durch Empfindlichkeiten zu gefährden.«
»Du hörst dich an wie ein Investor, der um sein Risikokapital bangt. Ich dachte bis heute, wir seien eine wissenschaftliche Expedition und kein…« Yeremis Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Worum genau geht es deinem Geldgeber eigentlich?«
Leary wich ihrem bohrenden Blick aus und grinste stattdessen in die Runde. »Als Expeditionsleiterin solltest du das eigentlich wissen. Flatstones Hobby ist die Erforschung präkolumbischer Kontakte zwischen Alter und Neuer Welt. Nebenbei erhofft er sich noch Impulse für seine pharmazeutische Forschungsabteilung.«
»Mir scheinen seine Prioritäten eher umgekehrt verteilt zu sein.«
»Selbst wenn es so wäre – was kümmert’s dich? Du und deine Fakultät können durch diese Expedition einen wissenschaftlichen Durchbruch erlangen, der seinesgleichen sucht. Dank Flatstones Geld! Als Gegenleistung verlangt er von dir lediglich professionelle Arbeit. Und was tust du? Du lässt unseren wertvollsten Fund einfach so davonlaufen. Ich an deiner Stelle würde mich ernsthaft fragen…«
»Erstens…«, unterbrach Yeremi den Psychologen gereizt – und wirkte mit einem Mal zerstreut. Ihr Blick bewegte sich von Leary weg und blieb bei den Bäumen jenseits des Lagers stehen. Sie lächelte. »Erstens«, sagte sie triumphierend, »bist du – sosehr du es dir vielleicht auch wünschen magst – nicht an meiner Stelle, und zweitens gefällt es mir überhaupt nicht, wenn du von Saraf Argyr sprichst, als wäre er ein Fossil. Er und seine Gefährten sind nämlich äußerst lebendig.«
Damit deutete sie zum Waldrand, wo Saraf Argyr mit einer Abordnung des Silbernen Volkes stand.
Einige der Forscher erschraken, als sie die hoch gewachsenen Hellhäutigen sahen. Unter den Wai-Wai-Indianern verbreitete sich aufgeregtes Gemurmel. Einige griffen zu den Waffen.
Saraf trat vor und hob zum Gruß die rechte Hand. Er trug einen sauberen blauen Rock, hatte sich sämtlicher Verbände und Pflaster entledigt und wirkte majestätischer als je zuvor. Ein Sonnenstrahl fiel auf seinen goldenen Anhänger. Das reflektierte Licht zog die Blicke der Expeditionsteilnehmer magisch an.
Hinter Saraf standen vier Männer mit Bart, ebenso blond und blauäugig wie er. Obwohl sie seine Größe nicht ganz erreichten und weniger muskulös waren als
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