Der silberne Sinn
Adma, wie können wir Ugranfirs Misstrauen besänftigen?«
Die Gefragte schlug die Augen nieder. »Er behauptet, jemand in deiner Gruppe trage eine Maske.«
Yeremi drehte sich unwillkürlich zu ihren Begleitern um, die jedes Wort von Wachanas Übersetzung verstanden hatten. Einige lachten leise, andere schüttelten verständnislos den Kopf. Sich erneut an Adma wendend, fragte sie: »Sie meinen, irgendjemand von uns sei nicht aufrichtig?«
Die Silberfrau hielt ihren Blick gesenkt und nickte stumm.
»Bitte lassen Sie Saraf wissen, dass ich mich um die Angelegenheit kümmern werde.«
Adma sah wieder in Yeremis Gesicht und lächelte erleichtert. »Das werde ich tun. Es wird ihn glücklich stimmen, weil er dir vertraut.«
Wieso soll er ausgerechnet mir vertrauen?, dachte Yeremi und runzelte verwundert die Stirn.
Die Silberfrau wandte sich dem gegenüberliegenden Ausgang der Halle zu. Obwohl sie sich größte Mühe gab, ihr Schmunzeln zu verbergen, bemerkte Yeremi es trotzdem. »Saraf sagte übrigens, er wolle euch den Besuch der beiden anderen Hallen nicht verwehren. Bitte folgt mir!«
»Ist das Betreten der Hallen des Gebets und des Großen Rates den Ungeweihten verboten?«, fragte Yeremi, nachdem sie und Wachana wieder zu Adma aufgeschlossen hatten.
»Es gibt im Silbernen Volk nur wenige Ge- und Verbote. Wir bemühen uns, den Sinn hinter einem Grundsatz zu erkennen und ihn auf unser Handeln zu übertragen.«
»In unserer Welt bemüht man sich, die Gesetzeslücken zu finden und davon zu profitieren.«
»Das muss auf die Dauer ein sehr unbefriedigendes Leben sein.«
Yeremi suchte in Admas Gesicht nach Anzeichen der Verachtung, aber sie fand nur Mitgefühl. Sie nickte bedächtig und begann an ihrer Oberlippe zu saugen, während sich ihr Blick wieder in die Halle der Begegnungen verirrte. Bevor man das Kommen der Fremden bemerkt hatte, glich das bunte Treiben dort jenem eines antiken Marktplatzes – da wurden Gespräche geführt, Töpferwaren und Stoffe angeboten, Spiele gespielt –, jetzt allerdings löste sich die zusammengeströmte Menge langsam wieder in einzelne Grüppchen auf.
Je länger Yeremi die Menschen betrachtete, desto merkwürdiger kam ihr diese Begegnungsstätte vor. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Männer und Frauen und…
»Es gibt keine Kinder!« Yeremis Geistesblitz war noch nicht ganz erloschen, als sich ihre Verwunderung schon Gehör verschaffte.
»Jetzt, wo Sie es sagen, bemerke ich es auch«, wunderte sich Greenleaf. Der hinter ihr gehende Archäologe kratzte sich den Kopf unter den dunklen Locken und rückte seine Brille mit dem Ringfinger zurecht. »Und außerdem scheint niemand älter als Saraf Argyr zu sein.«
»Das ist allerdings sonderbar«, stimmte ihm Hamilton-Longhorne zu. Sie schloss zu Greenleaf auf. »Was ist das für eine Gesellschaft, in der nur Erwachsene im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig leben?«
»Vielleicht eine, die mehr Geheimnisse hütet, als wir auch nur ahnen können«, murmelte Leary.
»Wieso? Die Werbebranche mit ihrem Zielgruppendenken hätte ihre helle Freude daran«, frotzelte Greenleaf.
Die nach diesem Zielgruppenschema bereits überreife Anthropologin ahndete die Bemerkung mit einem vernichtenden Blick. »Vielleicht sind die Jungen ja gerade in der Schule und lauschen der Weisheit des Alters.«
»Würdet ihr Adma bitte folgen«, mischte sich ein reichlich unglücklicher Wachana ein. Der Indianer zeigte auf die Silberfrau, die den hinterherbummelnden Forschern zu entschwinden drohte. Sie hatte den quadratischen Ausgang am gegenüberliegenden Ende der Halle schon fast erreicht.
Die Besuchergruppe folgte der Führerin nun schneller und diskutierte unterdessen alle möglichen Erklärungsansätze für Yeremis sonderbare Entdeckung.
Ihrer Meinung nach favorisierte Leary, auch wenn er es nicht offen zugab, eindeutig die Jungbrunnentheorie. Damit stand er ziemlich allein. Das vollständige Fehlen von Säuglingen und Greisen ließ jedoch auch Abbys spontanen Erklärungsversuch als äußerst zweifelhaft erscheinen. Daher verlegten sich die beiden Anthropologinnen auf die These, eine rätselhafte Epidemie könne die Mehrzahl der Silbernen dahingerafft haben. Alte Menschen wie auch Kinder seien für mancherlei Krankheiten erheblich anfälliger als junge Erwachsene.
»Und wo sind dann die Zwanzig- oder Fünfundzwanzigjährigen?«, erkundigte sich Thomas Sose, als fülle er gerade einen amtlichen Fragebogen aus.
»Menschenopfer?«, warf
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