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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wechselte sie das Thema.
    »Ist das Höhlensystem sehr groß?«
    »Wir nutzen nur einen kleinen Teil davon.«
    McFarells Bilddokumentation von den unterirdischen Anlagen in Aguascalientes kam Yeremi in den Sinn. Sowohl die Wandfriese als auch die Deckenbeschaffenheit der Stollen glichen denen in Mexiko – mehr, als es der Zufall erlauben dürfte.
    »Woher stammt Ihr Volk, Saraf?«
    Der Hüter behielt den Blick auf Adma gerichtet, die der Gruppe noch immer voranging. »Es ist noch nicht die Zeit, darüber zu sprechen.«
    Er vertraut dir nicht! Yeremi schluckte. Sie durfte nicht zu voreilig sein. Fragend blickte sie Saraf an. »Dürfen wir die Pyramiden sehen?«
    Das Oberhaupt des Silbernen Volkes blieb unvermittelt stehen und erwiderte Yeremis Blick. »Du weißt von den großen Hallen?«
    »Sie haben die Vogelbilder mit den drei roten Flecken gesehen.«
    »Aber die waren flach, zeigten nur Vierecke.«
    Wir haben Kenntnisse, die Ihre Vorstellungen übersteigen, dachte Yeremi und lächelte, als müsse sie sich bei dem Hüter für ihr Wissen entschuldigen.
    Einmal mehr schienen seine hellen Augen ihr ganzes Wesen zu durchleuchten. Yeremi glaubte, ihnen ausweichen zu müssen, als der Silbermann ihr zuvorkam. Er wandte sich wieder dem Stollen zu und lief weiter. Yeremi brauchte drei, vier schnelle Schritte, um zu ihm aufzuschließen. Beide vertieften sich in Admas grazilen Gang. Erst nach einer ganzen Weile sagte Saraf leise einen einzelnen Satz, den Wachana fast flüsternd übersetzte:
    »Auch wir besitzen Gaben, die eure Vorstellungen übersteigen, Yeremi Bellman.«
    Die Begegnung mit den Bewohnern der Höhle war für beide Seiten gleichermaßen aufregend. Yeremi und ihren Begleitern schloss sich eine immer größer werdende Zahl von Männern und Frauen an, die aus Nebenstollen zu ihnen stießen. Diese Gänge zweigten ohne erkennbares System vom Haupttunnel in unterschiedlichen Winkeln ab und ließen im spärlichen Licht der Wandlampen weitere Öffnungen erkennen: die Eingänge zu den Wohnhöhlen, wie Adma erklärte.
    Neben Neugier und Herzlichkeit entdeckte Yeremi in den markanten Gesichtern ihrer Gastgeber auch Scheu bis hin zu offener Feindseligkeit. Allmählich wurde ihr bewusst, wie knapp sich Saraf gegen seine Opponenten im Großen Rat hatte durchsetzen können.
    Yeremi sah auf ihr Chronometer und staunte: Der Marsch durch das Innere des Berges dauerte bereits zwanzig Minuten. Angesichts der vielen neuen Eindrücke war die Zeit nur so verflogen. Und nun sollte eine weitere Entdeckung hinzukommen. Das überwältigende Gefühl, sich im Innern einer großen Pyramide zu befinden.
    »Seht nur, die vielen Kinder der Weißen Götter!«, flüsterte Al Leary ergriffen. Das bernsteinfarbene Licht Dutzender Steinlampen ließ seine Augen funkeln. Auf dem viereckigen Platz, dessen Seitenlänge nicht ganz hundert Meter betrug, herrschte ein reges Leben. Darüber verjüngte sich der Innenraum, bis die Seitenwände in schwindelnder Höhe zusammenstießen.
    Sobald die Ankunft der Fremdlinge bemerkt wurde, liefen die Silbernen aufgeregt zusammen. Sie waren durchweg leicht gekleidet, was angesichts der milden Temperaturen in den Höhlen nicht verwunderte. Die Gewänder leuchteten in allen erdenklichen Farben. Ihre Träger waren ausnahmslos blond und blauäugig, die Männer zudem vollbärtig. Einige der Herbeiströmenden jubelten, andere starrten die Besucher nur stumm an.
    Bei den Forschern schien das vorherrschende Gefühl Euphorie zu sein. Sose strahlte, als könne er es kaum erwarten, seinem Premierminister Dutzende neuer Wähler zu melden. Nur Yeremi fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits bangte sie um die Sicherheit ihres Teams. Sollte die Stimmung unter den Silbernen umschlagen, konnten die Höhlen für die Forscher zu einer tödlichen Falle werden. Sie würden nicht einmal über Funk um Hilfe bitten können. In diese Angst mischte sich andererseits eine Faszination, der sich Yeremi nicht entziehen konnte. Im Unterschied zu McFarell, Flatstone und Leary hoffte sie nicht, empathische Telepathen zu entdecken. Vielmehr hatte sie nach einer seit vielen Generationen isoliert lebenden Gemeinschaft gesucht und stand nun unmittelbar vor ihrem Ziel. Selbst wenn die Vorfahren dieser Menschen nicht in präkolumbischer Zeit nach Amerika gekommen waren, bedeutete ihre Entdeckung doch eine wissenschaftliche Sensation. Bildlich gesprochen, hatten sie in einem Reagenzglas gelebt, völlig isoliert vom Rest der Menschheit. Sie zu

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