Der silberne Sinn
Greenleaf in die Runde.
»Und dies ist die Halle des Gebets.« Wachanas Übersetzung unterbrach die wild wuchernden Spekulationen.
Im Innenraum der Pyramide standen Holzbänke, und an der rechten Seite befand sich ein Podest mit einem hochlehnigen Stuhl.
Über die Wände erstreckten sich wie Jahresringe vom Boden bis unter die Spitze hinauf farbig bemalte Friese. Hier beschränkten sich die Motive auf Blumen und Tiere. Spiralen und Kreise, typische Symbole eines archaischen Sonnenkultes, fehlten.
»Sieht aus wie eine Kirche«, murmelte Greenleaf.
»Schaut euch einmal das an!« Die Stimme von Hamilton-Longhorne hallte aus einiger Entfernung herüber. Sie stand unter einem großen Wandrelief, das gegenüber vom Thron in die Felswand gemeißelt war. Es glich einem Triptychon, wobei die bildhaften Darstellungen nur den oberen Bereich der drei glatten, rechteckigen Tafeln verzierten. Darunter befanden sich Inschriften, die jeweils in zehn Segmente eingeteilt waren.
»Fällt euch etwas auf?«, fragte Hamilton-Longhorne.
Leary nickte langsam. »Auf jeder Tafel wurde eine andere Schrift verwendet.«
»Wie beim Stein von Rosette!«, hauchte Yeremi staunend.
»Muss mir das etwas sagen?«, fragte Block.
»Sollte es eigentlich. Der Stein von Rosette ist ein schwarzer Basaltblock aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Er trägt unter einer Hieroglypheninschrift den gleichen Text in demotischen Zeichen sowie in einer griechischen Übersetzung. Ihm, dem britischen Physiker Thomas Young und vor allem dem Franzosen Jean-Francois Champollion verdanken wir unser Verständnis der ägyptischen Hieroglyphenschrift. Das da« – sie deutete mit dem Kinn auf die Tafeln – »könnte den Schlüssel zu Dokumenten liefern, die bisher als unentzifferbar galten.«
Hamilton-Longhorne deutete auf die rechte Tafel. »Seht ihr diese runenartigen Zeichen hier? Ich mag mich ja täuschen, aber das sieht nach Ogham aus.«
Yeremi bemerkte den hilflosen Blick der Fotografin und lächelte. »Das Ogham-Alphabet ist eine Schriftschöpfung der Kelten.«
»Die Kelten? In Amerika?«, wunderte sich Block.
»Man hat Ogham-Inschriften überall in Nord-, Mittel- und Südamerika gefunden.«
»Das wusste ich nicht. Können Sie den Text lesen, Abby?«
»Nicht ohne meine klugen Bücher. Könnten Sie bitte ein paar Fotos davon machen?«
Während Irma ihr Stativ aufbaute, untersuchte Hamilton-Longhorne die anderen beiden Tafeln. Die Inschrift der mittleren sei iberisch-punisch, eine aus dem Phönizischen entstandene Schriftvariante, erklärte sie. Der dritte Text gab ihr Rätsel auf.
»Ich will einer gründlichen Untersuchung nicht vorgreifen«, murmelte sie, »aber offenbar handelt es sich um alphabetiforme Schriftzeichen, die aus Bildsymbolen hervorgegangen sind. Sie ähneln in gewisser Hinsicht jenen in Gavrinis.«
»Könnten Sie das für uns entschlüsseln?«, bat Leary.
»Man nennt sie auch die ›Ziegeninsel‹. Gavrinis liegt im Golf von Morbihan, also vor der bretonischen Küste.«
»Ah, Frankreich! Was gibt es auf dieser Ziegeninsel, das für uns von Bedeutung sein könnte?«
»Einen Tumulus. Er soll rund zweitausend Jahre vor der ersten ägyptischen Pyramide errichtet worden sein. Man sagt, der Grabhügel berge eines der schönsten Monumente der Erde, eine versteckte Stufenpyramide, wenn man so will.«
»Eine verborgene…?« Leary stieß pfeifend die Luft aus, nickte wie jemand, dessen letzte große Lebensfrage soeben beantwortet worden war, und ließ seinen Blick zur Spitze der Halle emporwandern.
»Da gibt es noch eine andere Geschichte, die sich um das Monument von Gavrinis rankt«, meldete sich Greenleaf zu Wort. Seine Stimme klang leise, unentschlossen, fast so, als wolle er nur widerstrebend Learys Hang zu Spekulationen neue Nahrung geben.
Doch gerade dieses Verhalten ließ den Psychologen aufhorchen. »Ich liebe Geschichten, Jeff. Von wem stammt sie denn?«
»Von Platon.«
»Dem griechischen Philosophen? Wusste nicht, dass der seine Ferien jemals in der Bretagne verbracht hat.«
Greenleaf überhörte die offenbar als Scherz gedachte, seiner Meinung nach aber gänzlich unkomische Bemerkung. »Einige Forscher sind der Ansicht, der Golf von Morbihan habe einst ein Gebiet überflutet, das von einer bedeutenden Hochkultur bevölkert war. Mit ihrer Religion, Schrift und Architektur befruchtete sie die Ägypter, Mesopotamier und sogar die Völker am Indus. Diese so genannte ›atlantische Westkultur‹ besaß eine
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