Der silberne Sinn
errichteten Basislager hinabführte. Die Hauptgruppe des Expeditionsteams war am Vortag eingetroffen und hatte sich auf dem roten, sandigen Tonboden am Fuß der Felswand eingerichtet. Yeremi bestand auf dieser Distanz zu den Silbernen, um deren Alltag so wenig wie möglich zu stören.
Wie sich inzwischen herausgestellt hatte, verließen die Bewohner der Höhlen erst in der Dämmerung ihr Versteck und kehrten meist vor Tagesanbruch wieder zurück. Dies mochte einer der Gründe sein, weshalb sie so lange unentdeckt geblieben waren. Es erklärte zumindest auch die bleiche Haut des Stammes. Sogar die Sinne des Silbervolkes waren dem Leben im Dämmerlicht angepasst, wohingegen sie im grellen Sonnenlicht fast orientierungslos wurden.
Abgesehen von solch nahe liegenden Erkenntnissen drangen die Forscher nur sehr langsam zu den Geheimnissen des Silbernen Volkes vor. Ugranfir schürte noch immer die Angst seiner Sippenbrüder vor »einem großen Unglück«, das die Fremdlinge in ihrem Gepäck trügen. Yeremi wusste um die Notwendigkeit vertrauensbildender Maßnahmen und predigte sie ihrem Team wie das Evangelium. Die Scheu der Silbernen unterscheide sich nicht von jener anderer Urwaldvölker, die sich plötzlich mit Besuchern aus der so genannten Zivilisation konfrontiert sähen. Habt Geduld mit ihnen!, lautete ihr Credo.
Der von Al Leary medienwirksam in Szene gesetzte – und mit den Phöniziern großzügig verquickte – Atlantis-Mythos hatte einen realen Hintergrund, denn nicht allein die in den Fels gravierten Bilder und Inschriften, von den Silbernen tara genannt, belegten ihre Herkunft aus der Alten Welt. Auch einige Äußerungen Sarafs vom Vortag lieferten dafür Anhaltspunkte. Er hatte die neu eingetroffenen Forscher ungeachtet der Proteste von Ugranfir zu einem Gespräch in die Halle des Großen Rates eingeladen. Die dritte Hohlpyramide wurde von einem großen Kreis aus hochlehnigen Stühlen beherrscht, auf denen nicht nur die anwesenden Ratsmitglieder, sondern auch die Gäste Platz nehmen durften.
Der Hüter des Silbernen Volkes hatte den Vorsitz inne. Nach seinen Willkommensworten durften die Besucher zwar Fragen stellen, aber seine Antworten waren selten ausführlich. Offenbar lebte das Silberne Volk schon lange vor Christoph Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent. Saraf erwähnte die Stadt Tula, in der Hamilton-Longhorne eine Neugründung des legendären Thule vermutete. Yeremi horchte sogleich auf. Sie erinnerte sich noch lebhaft an das Gespräch mit Dave Clarke über den Baum von Tule, auf den Saraf möglicherweise angespielt hatte, als er den vom Blitz gespaltenen Riesenbaum über dem Blaufroschhügel Ahuehuete nannte. Allmählich verknüpften sich die Fäden in ihrem Kopf zu einem Teppich, der immer deutlicher ein Muster bildete. Gebannt verfolgte sie Hamilton-Longhornes Erläuterungen zum sagenumwobenen Thule.
Sichtlich erregt erklärte die Anthropologin: »Dieser ›Ort am äußersten Ende der Welt‹ wird schon vom römischen Schriftsteller Seneca erwähnt. Auch auf der so genannten ›Toscanelli-Karte‹ – der Überlieferung nach hat Kolumbus eine Kopie davon besessen – ist Ultima Thule, das ›letzte Thule‹, eingezeichnet gewesen und darüber hinaus sogar Teile Amerikas. Auf Toscanelli hat sich auch der türkische Seefahrer und Entdecker Piri-Reis bezogen, der 1513 eine Karte mit Küstenlinien des amerikanischen Kontinents veröffentlicht hat, die bis dato noch gar nicht entdeckt war. Einigen Wissenschaftlern zufolge ist der sagenumwobene Gott Quetzalcoatl aus Thule gekommen. Seine erste Stadtgründung in Mexiko habe – ebenso wie die von Saraf erwähnte Stadt – Tula geheißen, in anderen Sprachen der präkolumbischen Indianer auch Tollan genannt.«
Der Quetzalcoatl-Mythos war Yeremi bestens bekannt, und sie wusste auch, dass man 1940 etwa fünfzig Meilen von Mexiko-City entfernt tatsächlich die Ruinen des neuen Tula entdeckt hatte. Und als Saraf über die Geschichte des Silbernen Volkes sprach, musste sie an die Worte im Popol Vuh, dem heiligen Buch der Quiche-Maya, denken: »Als die Quiche-Maya Tulan verließen, sagten die Väter: ›Eure Heimstätte ist nicht hier; jenseits der Meere werdet ihr eure Berge und Täler finden… ‹«
»Dann hat das Silberne Volk also seine Wurzeln in Thule?«, fragte sie den Hüter.
Saraf antwortete nicht sogleich, sondern schien seine Ratgeber mit Blicken zu konsultieren. In Ugranfirs Augen brannte ein bläuliches Feuer. Als der Hüter endlich zu
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