Der silberne Sinn
beobachten käme einer Zeitreise gleich. Ihre Sozialstrukturen, ihre Kultur, ihre Sprache und vieles mehr würden unschätzbare Einblicke in die Vergangenheit eröffnen und möglicherweise sogar Zukunftsprognosen erlauben für eine Welt, die – wie das Silberne Volk – in einem Dorf lebte, wenn es auch ein globales war.
»Das ist die ›Halle der Begegnungen‹«, sagte Adma und schloss mit einer einzigen Geste den überwältigenden Höhlendom ein.
Yeremi blickte mit offenem Mund nach oben.
»Gigantisch! Die Spitze dürfte über sechzig Meter hoch sein«, staunte Sose neben ihr. Seine Hand zupfte nervös an einer Aluminiumröhre, die aus der Brusttasche seines karierten Hemdes lugte. Nur mühsam hielt er sich zurück, die großartige Entdeckung mit einer Zigarre zu feiern.
»Unsere Berechnungen stimmen also«, sagte Leary zufrieden.
»Welchen Zweck erfüllen die anderen zwei Pyramiden?«, fragte Yeremi die Silberfrau.
»Dieser hier schließt sich die ›Halle des Gebets‹ an, und zuletzt folgt die ›Halle des Großen Rates‹.«
»Ist es erlaubt, sie zu sehen?«
Wachana hatte die Frage noch nicht ganz übersetzt, als plötzlich ein Raunen durch die Halle ging. Von hinten arbeitete sich ein Mann nach vorn. Es war Ugranfir. Sein Gesicht stach rot von dem Elfenbeinweiß seines Oberkörpers ab. Es verriet einen Zorn, der schon viel zu lange gezügelt worden war. Die Statur des Silbermannes erreichte zwar nicht die beeindruckenden Maße eines Saraf Argyr, aber Ugranfir musste im Ernstfall ein zäher Gegner sein: an die ein Meter fünfundachtzig groß, sehnig und vermutlich schwer zu packen. Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Besucher und schimpfte in der Sprache seines Volkes. Dabei schwollen die Adern an seinem Hals bedrohlich an, und Sehnen wölbten sich, als wollten sie die Haut sprengen.
Die unverhohlene Aggression des Ratsmitgliedes war ansteckend. Er fand zahlreiche Anhänger, die lautstark ihren Unmut bekundeten. Yeremi glaubte schon, ihre schlimmsten Befürchtungen würden sich erfüllen, als unvermittelt eine Welle sengender Hitze über sie hinwegrollte. Ihre Haare stellten sich auf. Es war ihr völlig unverständlich, warum diese nicht augenblicklich weggesengt wurden. Unwillkürlich reckte sie die Nase in die Luft, konnte aber keinen Brandgeruch wittern. Und dann erhob sich Sarafs Stimme machtvoll aus dem Geschrei seiner Leute. Nun erst wurde Yeremi sich ihres Irrtums bewusst. Es hatte keine Feuersbrunst gegeben, sondern nur eine beunruhigende Wahrnehmung, die aus ihren eigenen Gefühlen emporgezüngelt war.
Nach einem kurzen, selbst für Wachana unverständlichen Schlagabtausch schwieg Ugranfir beschämt. Dennoch verschossen seine tiefblauen Augen giftige Pfeile in Richtung der Besucher. Seine Anhänger schwiegen ebenfalls. Saraf sprach einige kurze Worte in Admas Richtung, packte Ugranfir an der Schulter und zog ihn aus der Halle. Die übrigen drei Ratsmitglieder folgten ihnen.
Adma wandte sich nun wieder den Gästen zu und bemühte sich mit mäßigem Erfolg, ihr gleichmütiges Lächeln wiederherzustellen. So ruhig es ihr möglich war, sagte sie: »Ugranfir ist wenig erfreut über euren Besuch.«
»Das kann ich sogar verstehen«, antwortete Yeremi.
»Ich möchte nicht erleben, wie es aussieht, wenn er wütend wird«, brummte Greenleaf von hinten.
Yeremi packte Wachanas Handgelenk, um ihm zu bedeuten, diesen Einwurf nicht zu übersetzen, und erkundigte sich: »Können wir irgendetwas tun, um Ugranfir von unseren wohlmeinenden Absichten zu überzeugen?«
Admas Lächeln gewann allmählich wieder die Gelöstheit zurück. »Das dürfte schwierig sein. Er sagte, die Frau mit den hellen Haaren und ihr Diener dürften bleiben, aber ihre Begleiter müssten gehen.«
Yeremi sah erstaunt den Indianer an, der ihren Blick mit ausdrucksloser Miene erwiderte. Dann wandte sie sich kopfschüttelnd wieder an Adma: »Wachana ist nicht mein Diener, sondern ein Freund. Dasselbe trifft auf die anderen zu.« Wenigstens auf die meisten, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Etwas Ähnliches hat mir Saraf auch schon gesagt. Er, Ugranfir und die anderen Mitglieder des Großen Rates haben sich zurückgezogen, damit sie ihren Vorwurf noch einmal überdenken.«
»Was für einen Vorwurf?«
»Es wäre nicht sehr taktvoll, Ugranfirs Verdacht zu wiederholen.«
»Nur Offenheit kann die Missgunst besiegen.«
»Du bist eine weise Frau, Yeremi Bellman.«
Yeremi lachte. »Ich glaube, das hat mir noch niemand gesagt. Also,
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