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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Pflanzen und Tiere von bisweilen fantasievoller Gestalt zeigte, außerdem Schiffsdarstellungen, Spiralen, konzentrische Kreise und Bögen, die an große Daumenabdrücke oder fremde Schriftzeichen erinnerten. Darüber reihten sich kupferne Halterungen mit Gefäßen aus poliertem Halbedelstein, in denen Dochte brannten. Der Hauptanteil des kargen Lichts wurde zur weiß gekalkten Decke geworfen und von dort in den Gang reflektiert. Die blütenförmigen, braun, grün und gelb schimmernden Lampenkörper waren jedoch dünn und durchscheinend, wodurch ihre natürliche Struktur erkennbar wurde, die sich zudem an den Wänden und am Boden als unberechenbares Lichtmuster abzeichnete.
    Die Decke war ganz und gar von einem Gitter kleiner quadratischer Löcher überzogen, deren Abstand zueinander ihrer Seitenlänge von vier bis fünf Zentimetern entsprach. Zwei ähnliche, jedoch deutlich schmalere Gitterbänder schmückten dicht über dem Boden die Seitenwände, die unterhalb des Frieses aus glatt geschliffenem grauem Fels bestanden. Mehrfach spürte Yeremi einen Luftzug oder sah ein verräterisches Flackern der Lampen. Offenbar dienten die Gitter nicht nur als Dekor, sondern waren Teil eines ausgeklügelten Belüftungssystems von bestechender Leistungsfähigkeit. Denn das Höhlenklima änderte sich erneut. War die Luft anfangs immer kälter geworden, wurde sie nun trocken und warm. Anscheinend gab es, wie wegen der roten Verfärbungen auf den Satellitenbildern ja zu vermuten war, tatsächlich eine natürliche Wärmequelle im Innern des Berges, die seine Bewohner auf geniale Art nutzten.
    Das Silberne Volk war alles andere als eine primitive Urwaldgesellschaft von nackten Jägern und Sammlern, die ein armseliges Dasein in einem ständig schrumpfenden Lebensraum fristete. Yeremi hatte diese Sichtweisen ohnehin nie vertreten. Reichtum bestand für sie weniger aus materiellen Dingen, die man besaß, sondern eher aus ideellen, die man in sich trug. Und so gesehen erwiesen sich die Silbernen immer deutlicher als ein sehr wohlhabendes Volk.
    Bald mündete der Tunnel in einen größeren Quergang, etwa sechs Meter breit wie hoch. Adma lief nach links. Die Neigung des Weges nahm allmählich ab. Yeremi betrachtete im Vorübergehen gerade die Darstellung eines Phönix, als sie zu ihrer Linken eine Bewegung spürte. Unvermutet ragte neben ihr der Hüter der Silbernen auf, und sie verlor vor Überraschung das Gleichgewicht und taumelte nach rechts, sodass sie gegen Wachana stieß. Saraf Argyr ließ sich nicht anmerken, ob er diese für ihn nicht gerade schmeichelhafte Reaktion überhaupt bemerkt hatte.
    »Du scheinst etwas anderes erwartet zu haben.« Seine vieldeutige Äußerung schien sogar Wachana zu verwirren. Der Indianer übersetzte sie als Frage, obwohl Sarafs Worte eher wie eine Feststellung geklungen hatten.
    Yeremi entschied sich für die unverfänglichste Sinngebung. Sie ließ ihren Blick demonstrativ über Boden, Wände und Decke streifen. »Es ist wunderbar, Saraf! Ist dies alles das Werk Ihres Volkes?«
    »Wir haben uns die natürlichen Tunnel und Höhlen zu Nutze gemacht und sie so erweitert, wie es für unsere Zwecke erforderlich war. Außerdem besitzt der Berg viele Spalten und Öffnungen, durch die Luft in unsere Welt gelangen und der Rauch der Lampen abziehen kann. Mit Kanälen und Kaminen haben unsere Baumeister eine steinerne Lunge geschaffen, die Tag und Nacht für uns atmet. Sie fördert aus den Tiefen des Berges auch Wärme zu uns.«
    »Ich nehme an, dort gibt es eine heiße Quelle.«
    »In der Tat! Wir haben ganz unterschiedliche Brunnen hier.«
    »Wenn der Fels so löchrig ist, wie Sie sagen, dann müsste es bei dem vielen Regen hier doch überall rinnen und tropfen.«
    »An einigen Stellen tut es das auch. Aber der Berg ist voll der Güte zu uns. Er nimmt viel von der Feuchtigkeit auf und sorgt so in seinem Innern für ein angenehmes Wetter.« Sarafs antiquierte Ausdrucksweise schlug erkennbar auf Wachanas Übersetzungen durch.
    Yeremi musste schmunzeln. »Womit speisen Sie Ihre Lampen?«
    »Der Brennstoff stammt aus einem anderen Brunnen, der an den Wurzeln des Berges liegt. Wir nennen ihn die ›Schwarze Quelle‹.«
    Yeremi hoffte, dass der ein gutes Stück hinter ihr auf einem kalten Zigarrenstummel herumkauende Sose die letzten Worte nicht verstanden hatte. Wenn es unter den Wassarais tatsächlich eine Ölquelle gab, dann dürfte das Silberne Volk hier die längste Zeit in Ruhe und Frieden gelebt haben. Rasch

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