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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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wischt sich über die Augen, schnieft und blickt zaghaft auf. »Colin«, sagt sie. »Liebst du mich noch?«
    Diese bescheuerte Alten. Mein Gott.
    Nur falls du es wissen willst: Ich bin kein Ungeheuer.
    Und dann sage ich was wie aus einem blöden Buch: »Ja, Eva«, sage ich. »Ja, sicher, ich glaube, ich kann dich noch lieben.«
    Eva weint jetzt, das Gesicht über den Schoß gebeugt. Sie zittert am ganzen Leib. »Ich bin ja so froh«, sagt sie. Die Tränen fallen senkrecht runter, graues Zeug tropft ihr aus der Nase in die leeren Hände.
    Sie sagt: »Ich bin ja so froh«, und weint immer noch. Man kann die zermanschte Boulette riechen, die sie sich in den Schuh gestopft hat, das zerkaute Huhn mit Pilzen in der Tasche ihres Kittels. Und die verdammte Schwester kommt einfach nicht mit meiner Mutter aus der Dusche, dabei muss ich um ein Uhr wieder an meinem Arbeitsplatz im achtzehnten Jahrhundert sein.
    Es fällt mir schon schwer genug, mich, um die vierte Stufe zu absolvieren, an die eigene Vergangenheit zu erinnern. Und jetzt mischt sich auch noch die Verga n genheit dieser anderen Leute darunter. Ich weiß nicht mehr, wessen Verteidiger ich heute bin. Ich betrachte meine Fingernägel. Ich frage Eva: »Ist Dr. Marshall hier, was meinst du?« Ich frage: »Weißt du, ob sie verheiratet ist?«
    Die Wahrheit über mich, wer ich wirklich bin, mein Vater und alles: Falls meine Mutter das weiß, ist sie jedenfalls so sehr von Schuldgefühlen zerfressen, dass sie ’ s mir nicht sagen kann.
    »Könntest du vielleicht anderswo weiterweinen?«, s a ge ich.
    Dann ist es zu spät. Der Eichelhäher ruft.
    Und Eva hört einfach nicht auf, sie heult, sie bibbert, sie drückt sich das Lätzchen aufs Gesicht, das Plasti k band zittert an ihrem Handgelenk. Sie sagt: »Ich ve r zeihe dir, Colin. Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir. Ach, Colin, ich verzeihe dir … «

9
    Es war ein Uhr mittags. Unser dummer kleiner Junge und seine Pflegemutter waren gerade in einem Ei n kaufszentrum, als sie die Durchsage hörten. Es war Sommer, nach den Ferien kam er in die fünfte Klasse, und sie machten Einkäufe für den Schulbeginn. In di e sem Jahr musste man, wenn man dazugehören wollte, gestreifte Hemden tragen. Das ist schon sehr lange her. Die Frau war erst seine erste Pflegemutter.
    Längs gestreift, erklärte er ihr gerade, als die Stimme ertönte.
    Die Durchsage:
    »Dr. Paul Ward«, sagte die Stimme, »Ihre Frau erwa r tet sie in der Kosmetikabteilung bei Woolworth ’ s.«
    Es war das erste Mal, dass seine Mutter ihn zu sich zurückholte.
    »Dr. Ward, Ihre Frau erwartet sie in der Kosmetika b teilung bei Woolworth ’ s.«
    Das war das geheime Signal.
    Also log der Junge. Er sagte, er müsse aufs Klo, ging dann aber zu Woolworth ’ s und entdeckte dort seine Mutter, die damit beschäftigt war, Schachteln mit Haarfärbemitteln zu öffnen. Sie trug eine große gelbe Perücke, die ihr Gesicht ganz klein aussehen ließ, und roch nach Zigaretten. Sie öffnete eine dieser Schac h teln mit den Fingernägeln und nahm die dunkelbraune Flasche heraus. Dann öffnete sie die nächste Schachtel und nahm die Flasche heraus. Dann steckte sie die erste Flasche in die zweite Schachtel und stellte sie ins Regal zurück. Und so weiter.
    »Die ist schön«, sagte die Mutter und zeigte auf die Schachtel, auf der eine lächelnde Frau zu sehen war. Sie vertauschte die Flasche darin mit einer anderen. Die Flaschen sahen alle gleich aus, dunkelbraun.
    Sie machte die nächste Schachtel auf und sagte: »Fi n dest du sie schön?«
    Und der Junge, dumm wie er ist, fragt: »Wer?«
    »Das weißt du genau«, sagte die Mutter. »Sie ist ja auch jung. Ich habe euch zwei beobachtet, wie ihr euch Klamotten angesehen habt. Du hast sie an der Hand gehalten. Also lüg nicht.«
    Und der Junge war so dumm, dass er jetzt nicht ei n fach weglief. Er dachte keine Sekunde an ihre stre n gen Bewährungsauflagen und die einstweilige Verf ü gung oder warum sie die letzten drei Monate im G e fängnis gewesen war.
    Und während sie Flaschen mit blonder Haarfarbe in Schachteln für Rothaarige und Flaschen mit schwarzer Farbe in Schachteln für Blonde packte, sagte die Mu t ter: »Gefällt sie dir denn?«
    »Du meinst Mrs. Jenkins?«, sagte der Junge.
    Die Mutter stellte die Schachteln jetzt schneller ins Regal zurück, gab sich nicht mehr die Mühe, sie richtig zu verschließen. Sie sagte: »Gefällt sie dir?«
    Und als ob das helfen würde, sagte unser kleiner Wicht: »Sie ist doch bloß

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