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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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eine Pflegemutter.«
    Ohne den Jungen anzusehen, den Blick auf die l ä chelnde Frau auf der Schachtel in ihrer Hand gerichtet, sagte die Mutter: »Ich habe dich gefragt, ob sie dir gefällt.«
    Ein Einkaufswagen ratterte neben ihnen durch den Gang, und eine blonde Dame griff ins Regal und nahm sich eine Schachtel mit einem blonden Bild, in der aber eine Flasche mit irgendeiner anderen Farbe war. Die Dame legte die Schachtel in ihren Wagen und ging weiter.
    »Die hält sich für eine Blondine«, sagte die Mutter. »Wir haben die Aufgabe, die kleinen Identitätsmuster der Leute durcheinander zu bringen.«
    Die Mutter nannte das »Terror gegen die Schönheit s industrie«.
    Der kleine Junge sah der Dame nach, bis sie so weit weg war, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte.
    »Du hast doch mich«, sagte die Mutter. »Und wie r e dest du diese Pflegefrau an?«
    Mrs. Jenkins.
    »Und gefällt sie dir?«, fragte die Mutter und sah ihn jetzt zum ersten Mal richtig an.
    Und der kleine Junge tat so, als müsste er überlegen, und sagte: »Nein?«
    »Hast du sie gern?«
    »Nein.«
    »Hasst du sie?«
    Und der rückgratlose Wurm sagte: »Ja?«
    Und die Mutter sagte: »Gute Antwort.« Sie beugte sich vor, sah ihm in die Augen und sagte: »Hasst du Mrs. Jenkins sehr?«
    Und der kleine Hosenscheißer sagte: »Sehr viel?«
    »Sehr sehr viel«, sagte die Mutter. Sie hielt ihm die Hand hin und sagte: »Wir müssen uns beeilen. Der Zug wartet nicht.«
    Sie eilte mit ihm durch die Gänge, zerrte ihn an dem knochenlosen Ärmchen auf das Tageslicht hinter den Glastüren zu und sagte: »Du gehörst mir. Mir. Jetzt und für alle Zeiten. Dass du mir das nie vergisst.«
    Und als sie ihn durch die Tür ins Freie zog, sagte sie: »Und falls die Polizei oder sonst wer dich später mal fragt: Ich erzähle dir alle die schmutzigen unanständ i gen Sachen, die diese so genannte Pflegemutter i m mer mit dir gemacht hat, wenn sie mit dir allein war.«

10
    Im alten Haus meiner Mutter, in dem ich jetzt lebe, sehe ich ihre Papiere durch, Collegezeugnisse, Urku n den, Protokolle, Rechnungen. Prozessakten. Ihr Tag e buch, noch verschlossen. Ihr ganzes Leben.
    In der nächsten Woche bin ich Mr. Benning, ihr dam a liger Verteidiger, als es um die kleine Anklage wegen Entführung nach der Sache mit dem Schulbus ging. In der Woche darauf bin ich Pflichtverteidiger Thomas Welton, der ihre Strafe durch ein Schuldeingeständnis auf sechs Monate heruntergehandelt hat, nachdem sie wegen der Übergriffe auf die Tiere im Zoo vor Gericht gekommen war. Danach bin ich der Bürgerrechtler, der sich im Zusammenhang mit dem Vorwurf der bö s willigen Sachbeschädigung bei dem Zwischenfall im Ballett für sie eingesetzt hat.
    Es gibt das Gegenteil von dejá-vu. Das nennt man jamais-vu. Man begegnet immer wieder denselben Leuten oder besucht dieselben Orte, aber jedes Mal ist es das erste Mal. Alle sind immer Fremde. Nichts ist einem irgendwie vertraut.
    »Wie geht es Victor?«, fragt meine Mutter beim näch s ten Besuch.
    Wer auch immer ich bin. Der Verteidiger des Tages.
    Was für ein Victor?, möchte ich fragen.
    »Frag lieber nicht«, sage ich. Es würde dir das Herz brechen. Ich frage: »Wie war Victor als kleiner Junge? Was hat er vom Leben erwartet? Hatte er irgendein großes Ziel, irgendeinen Traum?«
    Inzwischen komme ich mir vor wie ein Schauspieler in einer Seifenoper, die von Leuten in einer Seifenoper verfolgt wird, die von Leuten in einer Seifenoper ve r folgt wird, die irgendwo von echten Menschen verfolgt wird. Immer wenn ich hierher komme, suche ich auf den Korridoren nach einer Gelegenheit, die bebrillte Ärztin mit den schönen Ohren und dem kleinen schwarzen Hirn aus Haaren zu sprechen.
    Dr. Paige Marshall mit ihrem Klemmbrett und der fe s ten Haltung. Mit ihren unheimlichen Träumen, meiner Mutter zu zehn oder zwanzig weiteren Lebensjahren zu verhelfen.
    Dr. Paige Marshall, eine weitere potenzielle Dosis eines sexuellen Anästhetikums.
    Siehe auch: Nico.
    Siehe auch: Tanya.
    Siehe auch: Leeza.
    Ich komme mir zunehmend vor wie eine äußerst schlechte Nachahmung meiner selbst.
    Mein Leben ist ungefähr so logisch wie ein Zen-Koan.
    Ein Zaunkönig singt, aber ob das ein richtiger Vogel ist oder nur vier Uhr, kann ich nicht sagen.
    »Mein Gedächtnis taugt nichts mehr«, sagt meine Mutter. Sie reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen und sagt: »Ich überlege ständig, ob ich Victor die Wahrheit über ihn sagen soll.« Auf die Kopfkissen

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