Der Simulant
Freitagabend ve r sammeln sich immer dieselben Patienten, um den Film zum ersten Mal zu sehen.
Es gibt Bingo, Basteln und Haustierbesuchstage.
Es gibt Dr. Paige Marshall. Wohin auch immer sie jetzt verschwunden ist.
Es gibt feuerfeste Lätzchen, die einen vom Hals bis zu den Fußknöcheln abdecken, damit man sich beim Ra u chen nicht selbst in Brand stecken kann. Es gibt Po s ters von Norman Rockwell. Zweimal die Woche kommt ein Friseur.
Das kostet extra. Inkontinenz kostet extra. Chemische Reinigung kostet extra. Kontrolle der Urinmenge ko s tet extra. Magenschläuche.
Täglich gibt es Unterricht, wie man sich die Schuhe schnürt, wie man einen Knopf knöpft, einen Druc k knopf drückt. Eine Schnalle schnallt. Jemand zeigt einem, wie ein Klettverschluss funktioniert. Jemand führt einem vor, wie man einen Reißverschluss b e dient. Jeden Morgen sagen sie einem, wie man heißt. Freunde, die sich seit sechzig Jahren kennen, werden einander dauernd neu vorgestellt. Jeden Morgen.
Das sind Ärzte, Anwälte, Industriekapitäne, Leute, die einfach nicht mehr mit einem Reißverschluss umgehen können. Statt Unterricht sollte man eher Schadensb e grenzung sagen. Genauso gut könnte man versuchen, ein Haus anzustreichen, das in Flammen steht.
Dienstags gibt es im St. Anthony ’ s Bouletten. Mit t wochs Huhn mit Pilzen. Donnerstags Spaghetti. Fre i tags Fisch. Samstags Cornedbeef. Sonntags Pute n schnitzel.
Du kannst dir, während deine Uhr abläuft, die Zeit mit tausendteiligen Puzzles vertreiben. Es gibt keine Ma t ratze in dem Haus, auf der nicht schon ein Dutzend Leute gestorben sind.
Eva ist mir bis vors Zimmer meiner Mutter gefolgt und hockt bleich und welk im Rollstuhl wie eine frisch au s gewickelte Mumie, der jemand nur eben die verkle b ten Haare gerichtet hat. Ihr blauer Lockenkopf schwankt unaufhörlich hin und her, wie bei einem B o xer.
»Komm mir nicht zu nahe«, sagt Eva jedes Mal, wenn ich sie ansehe. »Dr. Marshall wird nicht zulassen, dass du mir wehtust«, sagt sie.
Bis die Schwester zurückkommt, sitze ich auf der Bettkante und warte.
Meine Mutter hat so eine Uhr, die zu jeder vollen Stunde den Ruf eines anderen Vogels ertönen lässt. Vom Band. Um ein Uhr ruft das Rotkehlchen. Um sechs der Pirol.
Zwölf Uhr mittags der Buchfink.
Um acht Uhr ruft die Kohlmeise. Um elf Uhr der Kle i ber.
Du verstehst schon, worum es geht.
Vögel mit bestimmten Uhrzeiten zu assoziieren kann allerdings auch verwirrend sein. Besonders wenn man draußen ist. Man wird vom Uhrbeobachter zum Voge l beobachter. Immer wenn man das liebliche Zwitschern eines Sperlings hört, denkt man: Ist es etwa schon zehn?
Eva schiebt sich ein Stück ins Zimmer hinein. »Du hast mir wehgetan«, sagt sie. »Aber ich habe Mutter nie davon erzählt.«
Diese alten Leute. Diese menschlichen Ruinen.
Es ist schon zwanzig nach Blaumeise, ich darf den Bus nicht verpassen, weil ich zur Arbeit antreten muss, wenn der Eichelhäher ruft.
Eva hält mich für ihren großen Bruder, der sie vor u n gefähr einem Jahrhundert befummelt hat. Die Zi m mergenossin meiner Mutter, Mrs. Novak mit ihren en t setzlichen Hängebrüsten und Riesenohren, hält mich für einen miesen Geschäftspartner, der ihr das Patent für die Baumwollentkörnungsmaschine oder den Fül l federhalter oder so was Ähnliches abgegaunert hat.
Für die Frauen hier bin ich alles Mögliche.
»Du hast mir wehgetan«, sagt Eva und schiebt sich etwas näher. »Und ich habe das niemals vergessen. Keine Minute.«
Jedes Mal wenn ich hier bin, werde ich von einer ve r schrumpelten Alten auf dem Flur als Eichmann b e schimpft. Eine andere Frau, aus deren Bademantel sich ein durchsichtiger Urinschlauch hervorschlängelt, beschuldigt mich jedes Mal, ich hätte ihren Hund g e stohlen, und will ihn zurückhaben. Und wieder eine andere Alte, die immer mehrere rosa Pullover übere i nander trägt, zischt mich jedes Mal aus ihrem Rollstuhl an: »Ich habe dich gesehen«, sagt sie und richtet ihr eines trübe Auge auf mich. »In der Nacht, als es g e brannt hat, habe ich dich bei ihnen gesehen!«
Du kommst nicht dagegen an. Jeder Mann, der Eva jemals über den Weg gelaufen ist, war in irgendeiner Form ihr großer Bruder. Ob bewusst oder unbewusst, sie hat ihr ganzes Leben lang darauf gewartet und immer damit gerechnet, von Männern befummelt zu werden. Selbst jetzt, als runzlige Mumie, ist sie immer noch acht Jahre alt. Für immer. Genau wie das alte Dunsboro mit seiner Müslimannschaft von
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