Der Simulant
brauche einen Freiwilligen aus dem Publikum.
»Danke sehr, aber nein, danke«, möchte ich meinen toten Verwandten sagen. »Aber ich kann meine eigene Familie gründen.«
Fisch. Fleisch. Veganisch. Heute wie fast jeden Abend ist es das Einfachste, einfach die Augen zuzumachen.
Mit einem Finger über dem aufgeschlagenen Telefo n buch kreisen.
Treten Sie näher, werden Sie zum Helden, meine D a men und Herren. Treten Sie näher und werden Sie zum Lebensretter.
Mit dem Finger zustechen und den Zufall für dich en t scheiden lassen.
13
Hier drin ist es so warm, dass Denny erst den Mantel auszieht, dann den Pullover. Ohne die Knöpfe aufz u machen, nicht mal die an den Ärmeln und am Kragen, zieht er sich das Hemd über den Kopf, stülpt es um, sodass Hände und Kopf in dem rot karierten Flanell gefangen sind. Als er sich das Hemd über den Kopf zu zerren versucht, rutscht ihm das T-Shirt bis unter die Achseln hoch; sein nackter Bauch sieht fleckig und eingefallen aus. Seine kleinen Brustwarzen sind von langen verdrehten Haaren umwuchert. Die Brustwa r zen wirken rissig und wund.
»Mann«, sagt Denny, noch immer mit dem Hemd kämpfend. »Zu viele Schichten. Warum muss es hier drin so heiß sein?«
Weil das eine Art Krankenhaus ist. Eine Pflegeanstalt.
Das schlaffe, mit orangefarbenen Rostflecken b e sprenkelte Gummiband seiner billigen Unterhose hat sich über den Gürtel seiner Jeans geschoben. Und auf der Haut seines Unterarms zeigen sich gelbliche Schweißflecken.
Die Empfangsschwester sitzt einfach da und sieht uns zu. Ihr ganzes Gesicht ist fest um die Nase geballt.
Ich versuche, ihm das T-Shirt wieder runterzuziehen und entdecke dabei jede Menge bunter Flusen in se i nem Nabel. In der Umkleide bei uns auf der Arbeit habe ich oft beobachtet, wie Denny sich die Hose z u sammen mit der Unterhose verkehrt herum abstreift, so wie ich es als kleiner Junge immer getan habe.
Und immer noch mit dem Kopf im Hemd, sagt Denny: »Mann, hilf mir doch mal. Da muss irgendwo ein Knopf sein, von dem ich nichts weiß.«
Die Empfangsschwester sieht mich viel sagend an. Sie hat schon den Telefonhörer in der Hand.
Inzwischen liegen die meisten von Dennys Kleidung s stücken auf einem Haufen neben ihm; er wird immer dünner und hat schließlich nur noch das miefige T-Shirt und die Jeans an, die an den Knien ziemlich ve r dreckt ist. Die Ösen und Schnürbänder seiner doppelt geknoteten Tennisschuhe starren vor Schmutz.
Hier drinnen ist es immer an die vierzig Grad warm, weil die meisten Leute hier keinen Blutkreislauf mehr haben, erkläre ich ihm. Das sind ja alles alte Leute.
Es riecht sauber, das heißt, man riecht nur Chemik a lien, also Putzmittel oder Parfüm. Kiefernduft soll i r gendwo Scheiße überdecken. Zitrone bedeutet, dass jemand gekotzt hat. Rosen übertünchen Urin. Nach einem Nachmittag im St. Anthony ’ s willst du für den Rest deines Lebens keine Rose mehr riechen.
Die Eingangshalle ist mit Polstermöbeln und künstl i chen Blumen eingerichtet. Diese Dekorationen verli e ren sich, wenn man erst mal hinter die verschlossenen Türen kommt.
Denny fragt die Empfangsschwester: »Kann ich mein Zeug hier lassen, oder ist das zu riskant?« Er meint seine Klamotten auf dem Fußboden. Er sagt: »Ich bin Victor Mancini.« Er sieht mich fragend an. »Ich möchte meine Mutter besuchen.«
Ich sage: »Denny, Mann, sie hat doch keinen Hir n schaden.« Und zu der Empfangsschwester sage ich: »Ich bin Victor Mancini. Ich komme regelmäßig her, um meine Mutter zu besuchen. Ida Mancini. Zimmer 158.«
Das Mädchen drückt auf einen Knopf und sagt: »Pfl e ger Remington. Pfleger Remington zum Empfang, bi t te.« Ihre Stimme dröhnt von der Decke.
Man muss sich fragen, ob es diesen Pfleger Remington wirklich gibt.
Man muss sich fragen, ob dieses Mädchen Denny w o möglich auch bloß für einen aggressiven Auszieher hält.
Denny befördert seine Sachen mit einem Tritt unter einen Polstersessel.
Ein dicker Mann kommt im Laufschritt den Korridor herunter, mit einer Hand hält er die hüpfende Brustt a sche voller Kugelschreiber fest, die andere liegt auf dem Gürtelhalfter mit dem Pfefferspray. An seiner Hüfte klirren Schlüssel. Er fragt die Empfangsschwe s ter: »Irgendwelche Probleme hier?«
Und Denny sagt: »Gibt es hier eine Toilette? Also eine für Besucher?«
Denny ist das Problem.
Er soll meiner Mutter die Beichte abnehmen, er soll mit ihr reden, mit dem, was von ihr noch übrig ist. Ich will ihn ihr
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