Der Simulant
kennen?«
Meine Mutter sagt: »Du willst doch nicht schon g e hen?« Sie sieht Denny an, ihre Augen sind ganz nass, die buschigen alten Brauen vereinigen sich über der Nasenwurzel. »Du hast mir so gefehlt«, sagt sie.
Denny sagt: »He, Mann, Volltreffer! Habe eine Ecke gefunden!«
Die zittrige, verbrüht aussehende Hand meiner Mutter zupft Denny ein rotes Flusenknäuel vom Kopf.
Und ich sage: »Entschuldigen Sie, Mrs. Mancini«, sage ich. »Aber wollten Sie Ihrem Sohn nicht etwas s a gen?«
Meine Mutter sieht mich an, dann Denny. »Kannst du bleiben, Victor?«, sagt sie. »Wir müssen reden. Ich habe dir so viel zu erzählen.«
»Dann tu es«, sage ich.
Denny sagt: »Das hier ist ein Auge, glaube ich.« Er sagt: »Das soll wohl ein Gesicht werden?«
Meine Mutter hält mir eine zittrige Hand hin und sagt: »Fred, das geht nur meinen Sohn und mich etwas an. Das ist eine wichtige Familienangelegenheit. Geh mal raus. Geh in den Fernsehraum, damit wir hier uns u n ter vier Augen reden können.«
Und ich sage: »Aber.«
Aber meine Mutter sagt: »Geh.«
Denny sagt: »Noch eine Ecke!« Er sucht die blauen Teile heraus und legt sie beiseite. Die Teile haben im Prinzip alle die gleiche Form: verlaufene Kreuze. G e schmolzene Hakenkreuze.
»Versuch zur Abwechslung mal jemand anderen zu retten«, sagt meine Mutter, ohne mich anzusehen. Sie sieht Denny an und sagt: »Victor holt dich ab, wenn wir beide hier fertig sind.«
Ich ziehe mich auf den Flur zurück, und sie blickt mir nach. Dann sagt sie etwas zu Denny, aber das kann ich nicht mehr hören. Sie streicht Denny mit einer zit t rigen Hand über den bläulich glänzenden Schädel, b e rührt ihn hinterm Ohr. Aus dem Ärmel ihres Nachthemdes ragt dünn und sehnig und braun wie ein g e kochter Putenhals ihr altes Handgelenk.
Denny, der noch immer in den Puzzleteilen wühlt, zuckt zusammen.
Ein Geruch kriecht mir in die Nase, Windelgeruch, und eine gebrochene Stimme hinter mir sagt: »Du warst das, du hast mir damals in der zweiten Klasse alle meine Schulbücher in den Dreck geworfen.«
Ich lasse meine Mutter nicht aus den Augen, versuche zu erkennen, was sie sagt. »Ja, kann sein«, sage ich.
»Na bitte, endlich gibst du es zu«, sagt die Stimme. Ein vertrockneter kleiner Pilz von einer Frau hakt sich mit einem Skelettarm bei mir ein. »Komm mit«, sagt sie. »Dr. Marshall würde gern mit dir reden. Ung e stört.«
Sie trägt Dennys rot kariertes Hemd.
14
Paige Marshall legt den Kopf nach hinten, ihr kleines schwarzes Hirn, und zeigt in das sandfarbene Decke n gewölbe. »Früher waren da Engel«, sagt sie. »Es heißt, sie waren unglaublich schön, mit blauen Flügeln und echt vergoldeten Heiligenscheinen.«
Die alte Frau führt mich in die große Kapelle von St. Anthony ’ s, groß und leer, früher war das nämlich mal das Kloster. Eine Wand ist ganz aus buntem Glas in hundert Goldvariationen. An der Wand gegenüber hängt ein riesiges Holzkreuz. In der Mitte steht Paige Marshall in ihrem weißen Laborkittel, golden ang e leuchtet; auf dem Kopf das schwarze Hirn aus Haaren, eine schwarze Brille auf der Nase. Sie blickt nach oben. Eine Erscheinung in Schwarz und Gold.
»Auf Anordnung des Zweiten Vatikanischen Konzils«, sagt sie, »hat man die Wandgemälde in den Kirchen übertüncht. Engel und Fresken. Auch die meisten St a tuen wurden entfernt. Die großartigen Mysterien des Glaubens. Alles weg.«
Sie sieht mich an.
Die alte Frau ist verschwunden. Hinter mir fällt die Tür der Kapelle ins Schloss.
»Es ist schon erbärmlich«, sagt Paige, »dass wir mit Dingen, die wir nicht verstehen, nicht leben können. Dass wir, wenn wir etwas nicht erklären können, es einfach von uns weisen.«
Sie sagt: »Ich habe herausgefunden, wie wir das L e ben Ihrer Mutter retten können.« Sie sagt: »Aber es könnte sein, dass Sie das nicht gutheißen werden.«
Paige Marshall knöpft langsam ihren Kittel auf, und immer mehr Haut kommt darunter zum Vorschein.
»Vielleicht finden Sie die Idee ja einfach nur abst o ßend«, sagt sie.
Sie öffnet den Kittel.
Darunter ist sie nackt. Nackt und bleich wie die Haut unter ihren Haaren. Nackt und weiß und kaum einen Meter entfernt. Und sehr bereit. Sie lässt den Kittel von den Schultern gleiten, jetzt hängt er nur noch an ihren Ellbogen. Die Arme stecken noch in den Ärmeln.
All die engen pelzigen Schattenplätze, nach denen du verschmachtest.
»Wir haben nur diese zeitlich sehr begrenzte Gelege n heit«, sagt
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