Der Simulant
Heilige Dreifaltigkeit glaubst, bis du selbst dein Vater.«
Ich bin selbst mein Vater?
Paige sagt: »Ich will darauf hinaus, dass die Demenz deiner Mutter offenbar schon in der Zeit vor deiner Geburt manifest war. Aus ihrem Tagebuch zu schli e ßen, hat sie schon in den Dreißigern unter Wahnvo r stellungen gelitten.«
Sie reißt den Faden raus, und Essensreste flitschen ihr an den Kittel.
Ich frage, wie sie das mit der Heiligen Dreifaltigkeit meint.
»Das kennst du doch«, sagt Paige. »Vater, Sohn und Heiliger Geist. Drei in einem. Der heilige Patrick und das Kleeblatt.« Sie sagt: »Bisschen weiter auf, ja?«
Verdammt, sage ich, kannst du mir nicht einfach klipp und klar sagen, was meine Mutter in dem Tagebuch über mich schreibt?
Sie betrachtet den blutigen Faden, den sie mir gerade aus dem Mund gerissen hat, dann besieht sie sich die Blutspritzer und Essenreste auf ihrem Kittel und sagt: »Eine solche Wahnidee ist unter Müttern ziemlich ve r breitet.« Sie schlingt mir den Faden um den nächsten Zahn.
Halb verdautes Zeug, von dem ich gar nicht wusste, dass es da war, löst sich und fliegt mir aus dem Mund. So wie sie mir den Kopf mit der Zahnseide hin-und herreißt, komme ich mir vor wie ein angeschirrtes Pferd im alten Dunsboro.
»Deine arme Mutter«, sagt Paige Marshall und sieht mich durch die Blutspritzer auf ihren Brillengläsern an, »ist so krank, dass sie tatsächlich glaubt, du seist die Wiederkunft Christi.«
23
Jedes Mal, wenn jemand in einem neuen Auto sie mi t nehmen wollte, sagte die Mutter dem Fahrer: »Nein.«
Sie standen irgendwo am Straßenrand und sahen den neuen Cadillac oder Buick oder Toyota davonfahren, und die Mutter sagte: »Der Geruch eines neuen Autos ist der Geruch des Todes.«
Es war das dritte oder vierte Mal, dass sie ihn wieder zu sich geholt hatte.
Der Klebstoff-und Harzgeruch in neuen Autos kommt vom Formaldehyd, erklärte sie ihm; das ist das Zeug, das man zum Konservieren von Leichen braucht. Es steckt in neuen Häusern und Möbeln. Es verdunstet. Formaldehyd atmest du auch ein, wenn du neue Kl a motten anziehst. Wenn du genug davon eingeatmet hast, bekommst du Magenkrämpfe, Durchfall und Er b rechen.
Siehe auch: Leberversagen.
Siehe auch: Schock.
Siehe auch: Tod.
Wenn du Erleuchtung suchst, sagte die Mutter, dann ist ein neues Auto nicht die richtige Lösung.
Am Straßenrand blühte Fingerhut, lange Stängel mit lila und weißen Blüten. »Digitalis«, sagte die Mutter, »hilft auch nicht.«
Der Verzehr von Fingerhutblüten hat Erbrechen, Del i rium und Verlust der Sehkraft zur Folge.
Über ihnen stemmte sich ein Berg an den Himmel, Wolken stauten sich an den mit Kiefern bewachsenen und weiter oben mit Schnee bedeckten Hängen. Der Berg war so riesig, dass er immer an derselben Stelle blieb, egal wie lange sie wanderten.
Die Mutter nahm das weiße Röhrchen aus der Handt a sche. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, kla m merte sie sich an der Schulter des dummen kleinen Jungen fest. Sie schob sich das Röhrchen in ein N a senloch und atmete kräftig ein, dann warf sie es auf den Kiesstreifen am Straßenrand und starrte den Berg an.
Der Berg war so groß, dass sie ewig daran entlan g wandern würden.
Als die Mutter ihn losließ, hob der dumme Junge das Röhrchen auf. Er wischte das Blut am Hemdschoß ab und gab es ihr zurück.
»Trichloräthylen«, sagte die Mutter und hielt ihm das Röhrchen unter die Nase. »Meine langwierigen Tes t reihen haben ergeben, dass dieses Zeug das beste Mittel gegen ein gefährliches Übermaß an menschl i chem Wissen ist.«
Sie packte das Röhrchen wieder in die Handtasche.
»Der Berg hier zum Beispiel«, sagte sie. Sie nahm das dämliche Kinn des Jungen zwischen Daumen und Ze i gefinger und lenkte seinen Blick dorthin. »Dieser prächtige große Berg. Einen flüchtigen Augenblick lang glaube ich, ihn so gesehen zu haben, wie er wirklich ist.«
Wieder mal bremste ein Auto ab, irgendwas Braunes mit vier Türen, ein ziemlich neues Modell, das die Mu t ter gleich weiterwinkte.
Eine Sekunde lang hatte die Mutter den Berg gesehen, ohne an Holzfäller und Skihotels und Lawinen zu de n ken, an Naturparks, Plattentektonik, Mikroklima, R e genschatten und Yin-Yang-Orte. Sie hatte den Berg ohne das Gerüst der Sprache gesehen. Ohne den Käfig der Assoziationen.
Sie hatte ihn ohne die Brille all dessen gesehen, was sie von Bergen wusste.
Was sie in dieser Sekunde gesehen hatte, war nicht einmal ein »Berg«. Kein Gebilde
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