Der Simulant
ich.
Denny sagt: »Entschuldige, Mann«, und legt die Karte wieder hin.
Nein, sage ich. Das Tagebuch. Es ist in einer Frem d sprache geschrieben. Deshalb kann er es nicht lesen. Ich kann es ja auch nicht lesen. Wie ich meine Mutter kenne, hat sie es deshalb so geschrieben, damit ich als Kind nicht darin herumschnüffeln konnte. »Mann«, sage ich, »nehme an, dass es Italienisch ist.«
Und Denny sagt: »Italienisch?«
»Ja«, sage ich, »du weißt schon. Spaghetti und so.«
Denny hat immer noch den dicken Mantel an. Er sagt: »Hast du schon gegessen?«
Noch nicht. Ich klebe den Einzahlungsumschlag zu.
»Glaubst du, die schmeißen mich morgen raus?«, sagt Denny.
Ja, nein, wahrscheinlich. Ursula hat ihn mit der Ze i tung erwischt.
Die Einzahlung für morgen ist vorbereitet. Die Dan k schreiben, die untertänigen Briefe, sind unterschrieben und mit Briefmarken versehen und können abg e schickt werden. Ich nehme meinen Mantel vom Sofa. Daneben liegt Dennys Stein und ruiniert die Federung.
»Also, was ist mit diesen Steinen?«, sage ich.
Denny hat die Haustür aufgemacht und wartet dort, während ich ein paar Lampen ausknipse. Er steht in der Tür und sagt: »Keine Ahnung. Aber Steine sind ja praktisch so was wie Land. Die Steine sind sozusagen meine Grundausstattung. Land, aber es muss sich erst mal was ansammeln. Verstehst du. Landbesitz, aber vorläufig noch fürs Haus.«
»Klar«, sage ich.
Wir gehen, ich schließe die Tür hinter uns ab. Der Nachthimmel ist mit Sternen übersät. Alle unscharf. Kein Mond.
Auf dem Bürgersteig sieht Denny in das Gewimmel hinauf und sagt: »Ich glaube, als Gott die Erde aus dem Chaos erschaffen wollte, hat er als Erstes einfach mal einen Haufen Steine gesammelt.«
Seine neue Obsession hat mich schon so im Griff, dass ich im Gehen die freien Grundstücke nach Steinen a b suche, die wir mitnehmen könnten.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle, immer noch die rosa Babydecke auf der Schulter, sagt Denny: »Ich nehme nur solche Steine, die keiner haben will.« Er sagt: »Ich hole jeden Abend nur einen Stein. Und dann überlege ich mir, wie es weitergehen soll, was ich als Nächstes mache.«
Unheimliche Vorstellung. Steine nach Hause zu schleppen. Land zu sammeln.
»Erinnerst du dich an diese Daiquiri?«, sagt Denny. »Die Tänzerin mit dem krebsartigen Leberfleck?« Er sagt: »Du hast doch nicht mit ihr geschlafen, oder?«
Wir klauen Grundbesitz. Wir stehlen Land.
Ich sage: »Warum sollte ich nicht?«
Wir sind Banditen. Wir sind Landräuber.
Und Denny sagt: »Ihr richtiger Name ist Beth.«
Wie ich Denny kenne, plant er wahrscheinlich schon, einen eigenen Planeten aufzumachen.
22
Dr. Paige Marshall hat dünne Gummihandschuhe übergestreift. Sie spannt einen weißen Faden zwischen den Händen, beugt sich über eine verschrumpelte alte Frau, die in einem Liegesessel liegt, und sagt: »Mrs. Wintower? Sie müssen den Mund so weit aufmachen, wie Sie können.«
Hände in Latexhandschuhen sehen gelblich aus, genau wie Leichenhände. Ich denke an die Leichen, die wir im ersten Studienjahr seziert haben. Kopf-und Schambehaarung rasiert. Überall nur noch Stoppeln. Die Haut wie Hühnerhaut, Haut von billigen Kochhü h nern, gelblich und mit pickligen Follikeln übersät. F e dern oder Haare, alles das Gleiche, nur Keratin. Die Muskeln des menschlichen Oberschenkels sehen aus wie dunkles Putenfleisch. Wenn man im ersten Stud i enjahr mit dem Sezieren anfängt, kann man kein Hühner-oder Putenfleisch mehr essen, ohne zu de n ken, dass man eine Leiche verzehrt.
Die alte Frau legt den Kopf nach hinten und zeigt den krummen Bogen ihrer braunen Zähne. Ihre Zunge ist weiß belegt. Die Augen geschlossen. So sehen alle diese alten Frauen bei der Kommunion aus, wenn man als katholischer Messdiener neben dem Priester he r gehen muss, während er die Hostie auf eine alte Zu n ge nach der anderen legt. Die Kirche sagt, man darf die Hostie auch mit der Hand empfangen und sich dann selbst in den Mund schieben, aber das tun diese alten Frauen nicht. Wenn man die Kommunionbank hinunterblickt, sieht man immer noch zweihundert offene Münder, zweihundert alte Frauen, die ihre Zu n gen der Erlösung entgegenstrecken.
Paige Marshall beugt sich vor und zwängt der alten Frau den weißen Faden zwischen die Zähne. Sie zieht, und als der Faden rausspringt, spritzt auch etwas we i ches Graues mit raus. Sie klemmt den Faden zwischen die nächsten beiden Zähne, und als er wieder zum Vorschein kommt,
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