Der Simulant
Armen und Beinen. Mit jedem Ausatmen wird dir ein wenig wärmer. Du wirst länger und dicker. Schon bist du härter und schwerer, dunkler und pochender als jemals zuvor.
Nach ihrer Uhr blieben bis zum nächsten Kunden noch ungefähr vierzig Minuten.
Der Nebel ist weg, Mr. Jones, und die Gestalt vor dir ist Marilyn Monroe. Sie trägt ein eng anliegendes S a tinkleid. Sie leuchtet wie Gold, sie lächelt, sie hat die Augen halb geschlossen und den Kopf nach hinten gelegt. Sie steht auf einer Wiese inmitten winziger Blüten und hebt die Arme, und während du näher he r antrittst, gleitet ihr Kleid auf den Boden.
Die Mutter hat dem dummen kleinen Jungen gege n über oft gesagt, dass es dabei nicht um Sex gehe. Das seien ja keine echten Frauen, sondern nur Symbole. Projektionen. Sexsymbole.
Die Macht der Suggestion.
Zu Mr. Jones sagte die Mutter: »Nimm sie dir.«
Sie sagte: »Sie gehört dir.«
21
An diesem ersten Abend steht Denny vor dem Haus meiner Mutter und hat irgendwas im Arm, das in eine rosa Babydecke gewickelt ist. Ich sehe ihn durch den Türspion: Denny in seinem viel zu großen karierten Mantel, Denny mit einem Baby an der Brust, die Nase verzerrt, die Augen verzerrt, alles verzerrt durch die Linse des Gucklochs. Alles vorgewölbt. Seine Hände, die das Bündel halten, sind von der Anstrengung ganz weiß.
Und Denny schreit: »Mach auf, Mann!«
Und ich öffne die Tür so weit, wie die Sperrkette es zulässt. Ich sage: »Was hast du da mitgebracht?«
Und Denny zieht die Decke um das kleine Bündel und sagt: »Wie sieht es denn aus?«
»Sieht aus wie ein Baby, Mann«, sage ich.
Und Denny sagt: »Gut.« Er hebt das rosa Bündel e t was an und sagt: »Lass mich rein, Mann, das Ding wird immer schwerer.«
Ich ziehe die Kette raus. Ich trete zur Seite, und De n ny stürmt rein, rennt in eine Ecke des Wohnzimmers und schmeißt das Baby auf das mit Plastik überzogene Sofa.
Die rosa Decke geht auf, und es rollt ein Stein heraus, grau wie Granit, geschrubbt und glatt. Kein Baby, bloß dieser Brocken.
»Danke für die Idee mit dem Baby«, sagt Denny. »Wenn die Leute einen jungen Mann mit einem Baby sehen, sind sie immer sehr freundlich«, sagt er. »Wenn sie dich dagegen mit einem dicken Stein ru m laufen sehen, werden sie nervös. Besonders, wenn man damit in den Bus steigen will.«
Er klemmt sich ein Ende der rosa Decke unters Kinn und faltet sie zusammen. Er sagt: »Außerdem b e kommt man mit einem Baby immer einen Sitzplatz. Und wenn man sein Geld vergessen hast, schmeißen sie einen trotzdem nicht raus.« Denny wirft sich die gefaltete Decke über die Schulter und sagt: »Das Haus gehört deiner Mutter?«
Auf dem Esszimmertisch liegen die Schecks und G e burtstagskarten von heute, meine Dankesbriefe und das dicke Notizbuch, in das ich alle diese Leute eing e tragen habe. Daneben steht die alte Addiermaschine meiner Mutter, ein Ding mit zehn Tasten und einem langen Hebel an der Seite. Ich setze mich wieder, fülle den heutigen Einzahlungszettel aus und sage: »Ja, es gehört ihr, bis die Leute von der Grundsteuer mich in ein paar Monaten an die Luft setzen.«
»Gut, dass du ein ganzes Haus für dich hast«, sagt Denny. »Meine Leutchen haben nämlich gesagt, dass ich beim Auszug alle meine Steine mitnehmen soll.«
»Mann«, sage ich. » Wie viele davon hast du denn?«
Er hat für jeden Tag, den er enthaltsam war, einen Stein, sagt Denny. Die Steine sammelt er nachts, um sich abzulenken. Er muss die Steine suchen. Waschen. Nach Hause schleppen. Auf diese Weise gestaltet er seine Therapie zu etwas Großem und Guten, statt dass er nur ein blödes kleines Arschloch ist.
»Damit lenke ich mich ab«, sagt er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, in einer Stadt ve r nünftige Steine zu finden. Nicht irgendwelche Beto n klötze oder diese Plastiksteine, in denen die Leute ihre Ersatzschlüssel verstecken.«
Die Schecks von heute ergeben insgesamt fünfun d siebzig Dollar. Alle von Fremden, die mich in irgen d welchen Restaurants mit einem Heimlich-Griff gerettet haben. Das reicht nicht einmal annähernd für einen Magenschlauch, nehme ich an.
Zu Denny sage ich: »Und wie viele Tage hältst du jetzt schon durch?«
»Genug für einhundertundsiebenundzwanzig Steine«, sagt er. Er kommt um den Tisch herum zu mir, besieht sich die Geburtstagskarten, die Schecks, und sagt: »Und wo ist das Tagebuch deiner Mutter?«
Er nimmt eine Geburtstagskarte.
»Das kannst du nicht lesen«, sage
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