Der Simulator
Abend. Das Licht brannte. Durch die offene Bürotür war ich darauf aufmerksam geworden.
Ich hielt sie für einen Eindringling, jemand, der sich unbefugt Zutritt verschafft hatte, um Blinzles Arbeit auszuspionieren. Die Ereignisse hatten mich übermisstrauisch, fast paranoisch werden lassen. Ich fuhr sie an, und sie reagierte kühl, fast feindselig, obwohl sie mich sofort erkannte.
Erst später, nach vielen klärenden Worten war sie davon überzeugt, dass ich es nicht auf Blinzles Nachfolge abgesehen hatte, ein Eindruck, den sie durch das Lesen der Zeitungen gewonnen hatte. Mein Auftritt auf Kowalskis Fest hatte seinen Teil dazu beigetragen.
Ich kannte sie von frühester Kindheit an, war der von ihr innig geliebte Onkel Marc gewesen, und es tat mir weh, wie sie mir begegnete, dass sie überhaupt in Betracht ziehen konnte, ich zöge persönlichen Vorteil aus dem tragischen Tod ihres Vaters.
Man habe sie gebeten, Blinzles persönliche Habe abzuholen, antwortete sie, nachdem ich sie zur Rede gestellt hatte. Tatsächlich hatte sie Blinzles Computer eingeschaltet und schien allerlei Daten auf ihren optischen Stick zu kopieren. Wer weiß, wie sie an sein Login gekommen war. Manches hatte sie ausgedruckt, Fotos zumeist, Grafiken und Diagramme.
Eine Zeichnung erregte meine Aufmerksamkeit. Blinzle schrieb gerne mit der Hand, und so hatte er auch ein altertümliches Eingabetablett mit Stift besessen, mit dem er Kästchen und Kreise malte, sie mit allerlei Pfeilen verband, um Abläufe zu verdeutlichen oder Zusammenhänge bildlich darzustellen. Manchmal kritzelte er auch einfach etwas vor sich hin, malte Männchen oder karikierte Personen, die er kannte. Aber nicht immer speicherte er die Produkte dieses Zeitvertreibs auf dem Computer ab.
Die Zeichnung zeigte eine Gestalt. Seiner Bewaffnung nach zu urteilen, war es ein Mann, denn er trug Schild und Speer, offenbar ein Römer. Vor dem Mann lief ein Tier. Blinzle war kein begnadeter Zeichner gewesen, doch schnell erkannte ich in der unförmigen Gestalt, die vorwärts kroch, eine Schildkröte. Ein bewaffneter Römer verfolgt eine Schildkröte, dachte ich. Was hatte Blinzle sich dabei gedacht?
Blinzle und ich hatten immer in engem Kontakt gestanden. Oft arbeiteten wir an den gleichen Dokumenten, ergänzten sie wechselweise und kommentierten die Arbeit des jeweils anderen. Blinzle hatte hierzu eine rote, ich eine grüne Schriftfarbe verwendet. Wenn er etwas besonders wichtig fand, flocht er gerne ein Ausrufezeichen ein, und so war mein Auge auf diese roten Blumen konditioniert, die wie bunte Fremdkörper aus manchem Text sprossen, das eintönige Schwarz der Buchstabenwüsten wie Leuchtdioden durchbrachen.
Aber es hätte gar nicht dieser gemeinsamen Geschichte bedurft, um die überragende Bedeutung zu erkennen, die Blinzle seiner Zeichnung beigemessen haben musste. Vor und hinter der Zeichnung prangten drei riesige Ausrufezeichen. Sie waren mehrfach über-und nachgezeichnet worden, so dass sie wie Säulen das altertümliche Motiv einrahmten.
Blinzle wollte mir etwas mit dieser Zeichnung sagen. So viel stand fest. Etwas Wichtiges, etwas sehr Wichtiges. Nur, was es war, das wollte sich mir zunächst nicht erschließen.
»Sam…« Ich war immer noch verwirrt und suchte nach Worten. »Wie lange bist du schon in Heidelberg?«
»Seit mehr als einem Monat.«
Meine Verwirrung steigerte sich, Ein Monat? Dann war sie während meines Urlaubs zurückgekommen. »Und dein Studium?«
Sie lächelte schwach. «Ich bin gerade fertig geworden.«
»Also bist du jetzt diplomierte Marktforscherin!«
»Ja, mein Vater hat offenbar alles getan, um mir den Berufseinstieg so schwer wie möglich zu machen.«
»Es werden immer Marktforscher gebraucht werden. Vielleicht weniger als bisher… Viel weniger. Aber du weißt doch, dass du hier immer willkommen bist. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich frage Kowalski.«
»Lass gut sein«, sie nahm weitere Papiere aus dem Drucker und legte sie zu jenen auf dem Schreibtisch, »das war nicht ganz ernst gemeint. Es ist nur… Weißt du, ich habe in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht nachzudenken. Über das hier...« Ihre Hand beschrieb einen Halbkreis. »Es ist alles so weit weg von dem, was ich an der Uni gelernt habe, was mein Vater früher gelehrt hat. So technisch. Hat das überhaupt noch etwas mit Menschen zu tun?«
Ich selbst war vor Jahren einer von Prof. Blinzles Studenten gewesen. Sie hatte recht. Ich spürte das mehr, als dass ich
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