Der Simulator
es wusste. Die Arbeit der letzten Monate hatte mich betriebsblind gemacht. Waren wir wirklich auf dem richtigen Weg? Konnte der Simulator tatsächlich jemals etwas über echte Menschen aussagen?
Plötzlich fiel mir noch etwas anderes ein: »Dann warst du dabei als...«
»Ja«, sie nickte heftiger, als es notwendig gewesen wäre, »er starb sozusagen in meinen Armen. Erst schwankte er, dann sah er mich an. Er wirkte…«, sie überlegte lange, »erstaunt. Es fällt mir kein besseres Wort ein. Ja, erstaunt. Vielleicht wusste er in diesem Augenblick, dass er sterben würde. Ein ganz und gar unerwarteter Tod. Vielleicht Grund genug, um erstaunt zu sein. Er fiel in sich zusammen, als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen. Als hätten alle Muskeln auf einmal versagt. Einfach so…«
In diesem Augenblick sah ich Norbert Blinzle vor mir. Sah auch seinen Blick. Er war ohne Frage ein Mensch, der angesichts des Todes erstaunt geschaut hätte. Manchmal hatte ich insgeheim vermutet, er rechne selbst nicht damit, überhaupt jemals zu sterben.
Sein Tod wurde immer rätselhafter. Jetzt wo ich aus erster Hand eine glaubwürdige Schilderung der Umstände hatte, schien es noch weniger Gründe zu geben, an einen gewaltsamen Tod zu glauben, an einen Mord gar.
»Weißt du, ob dein Vater kurz vor seinem Tod mit Bogdan gesprochen hat?«
»Mit wen?«
»Mit Bogdan.«
»Bogdan?«
»Ja, Bogdan«, ich wurde ungeduldig, »Bogdan Draganski, dein anderer ‚Onkel’.«
»Ich kenne keinen Bogdan Draganski.«
Es verschlug mir die Sprache. Sie kannte Bogdan länger als mich selbst. Schon in ihrer Kindheit hatte Bogdan für Blinzle gearbeitet, zunächst im technischen Bereich der Uni, später als Hausmeister, als Fahrer, als Mädchen für alles. Durch Blinzle war er dann zu Sinex gekommen und hatte dort schnell Karriere gemacht. Mehr als einmal hatte Bogdan Samanthas Spielzeug repariert oder etwas für sie gebastelt. Sie war regelrecht vernarrt in ihn gewesen und hatte sich tagelang auf seine seltenen Besuche gefreut.
Zuerst dachte ich an einen seltsamen Scherz, aber sie blieb ernst, und als ich nachhakte, wurde ihr Bick fragend, der ganze Ausdruck ihres Gesichtes zweifelnd. Vielleicht hatte sich mein Verhalten schon bis zu ihr herumgesprochen, vielleicht begann auch sie, meine Fähigkeit, die Welt um mich herum richtig wahrzunehmen, in Frage zu stellen. Wenn ich nicht achtgab, würde ich irgendwann zum Gespött der Leute werden, zu einem Wunderling, hinter dessen Rücken man sich belustigt zuraunte.
Um den peinlichen Augenblick zu überbrücken, um überhaupt etwas Unverfängliches zu tun, nahm ich die Ausdrucke in die Hand, die auf dem Tisch lagen, und begann sie mechanisch durchzublättern. Ich war so durcheinander, dass ich keine Augen für Blinzles Diagramme hatte, für die vielen Skizzen, die er hinterlassen hatte. Nur als das Blatt mit den riesigen Ausrufezeichen durch meine Finger glitt, beobachtete ich aus den Augenwinkeln Samanthas Reaktion. Doch sie schien abwesend, in Gedanken versunken, vielleicht hatte sie die Zeichnung gar nicht bemerkt.
Wir schwiegen beide, während das Papier leise in meinen Händen raschelte. »Weißt du was? Ich hole den Krempel einfach ein anderes Mal. Dann kannst du dir alles in Ruhe ansehen«, sagte sie schließlich. Noch bevor ich antworten konnte, fügte sie ein »Wir sehen uns!« hinzu und ging zu Tür. Unsicher folgte ich ihr einige Schritte, doch sie winkte mir zu und verschwand im Gang.
Eine Weile stand ich unschlüssig in Blinzles ehemaligem Büro. Samanthas Aufbruch war so plötzlich gekommen, so unerwartet. Fast meinte ich, sie sei vor mir geflohen, vor mir oder vor der Situation, und ich verspürte ein tiefes Bedauern über dieses unglückliche Zusammentreffen.
Dann ging ich zurück zum Schreibtisch und suchte die Zeichnung von dem Krieger und der Schildkröte. Dass ich sie nicht mehr fand, verwunderte mich nicht. Im Gegenteil, fast hatte ich es erwartet. Vielleicht hatte sie Samantha verschwinden lassen, vielleicht hatte sie sich auf die gleiche Weise in Nichts aufgelöst, wie es seinerzeit Bogdan Draganski getan hatte.
Als ich in meinem eigenen Büro ankam, war ich völlig durcheinander. So wie mir der Schwindel, der mich manchmal befiel, der körperlichen Sicherheit beraubt hatte, dem Bewusstsein, die physikalische Welt sei stabil und unverrückbar, so ließen mich diese ganz und gar unverständlichen Ereignisse an der Gültigkeit der mir bekannten Wirklichkeit selbst
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