Der Simulator
zweifeln.
Ich musste mit jemandem sprechen, mit einer Person, die in der Lage wäre, mir Halt zu geben, mir mein Vertrauen in mich und die Welt wenigstens teilweise zurückzugeben. Wenn es jemanden gab, der dazu in der Lage wäre, dann zweifellos Doc Schmitt, mein alter Lehrer. Nach seinem Zusammenbruch und seiner Entlassung aus dem aktiven Schuldienst, hatte ich ihm einen kleinen Posten im Schulungsbereich der Sinex AG verschafft. So war ich sozusagen sein Chef, ihm von der Position her zumindest übergeordnet, eine Tatsache, die mir peinlicher war als ihm, schien er doch diesen Umstand eher lustig zu finden.
Bei den wenigen Stunden, die sein Arbeitsvertrag umfasste, war er jetzt natürlich nicht im Büro. Aber ich hatte gute Chancen, ihn zuhause anzutreffen. Schon nach wenigen Sekunden erklang seine krächzende Stimme. Er wohnte in der Weststadt, im fünften Stock eines heruntergekommenen Jugendstilhauses, und mein zaghaft vorgebrachter Wunsch, mich mit ihm zu treffen, sobald wie möglich, wie ich trotz meiner anfänglichen Zurückhaltung hinzufügte, schien bei ihm offene Türen aufzustoßen.
»Das ist eine hervorragende Idee, mein Junge«, sagte er, ohne nach einem Grund zu fragen, und als er als Treffpunkt die Schwarze Zigarre vorschlug, eine illegale Raucherkneipe in der Bahnhofsstraße, war ich mir fast sicher, dass ihm jeder Anlass, seiner Nikotinsucht nachzugehen, mehr als recht war.
Nun verspürte ich wenig Neigung, mich strafbar zu machen, meine ohnehin schon schwierige Situation durch den Konsum illegaler Drogen noch schwieriger zu machen. Andererseits gab es diese Spelunken mittlerweile an jeder Straßenecke, so dass das Risiko, einer der seltenen Razzien zum Opfer zu fallen, gering blieb. So stimmte ich zu.
Die Fahrt nach Heidelberg wurde zu einem Spießrutenlauf.
Es war früher Nachmittag, die Straßen voll mit Berufstätigen, die in die Stadt strömten. In schneller Folge hielten die S-Bahn-Züge im Ziegelhäuser Bahnhof. Auf den Bahnsteigen herrschte ein reges Kommen und Gehen. Dennoch konnte man sie von weitem erkennen. Überall standen sie herum und lauerten auf ihre Opfer. Andere hatten eine passende Zielperson bereits gefunden und tippten eifrig auf den Schirmen ihrer kleinen Eingabegeräte herum, während ihre Gesprächspartner ergeben Auskunft erteilten.
Wie immer um diese Zeit waren die Schnüffler besonders aktiv. Während sie morgens und mittags Schüler, Hausfrauen und Rentner abgreifen konnten, bot sich jetzt die Gelegenheit, die Quoten der Erwerbstätigen zu füllen. Aber natürlich war ihnen nicht jeder recht, der zum Zug hastete. Während der eine nach einer jüngeren weiblichen Person mit gehobenem Einkommen Ausschau hielt, mochte der andere nach einem Herrn mittleren Alters mit Haarausfall fahnden. Ich betete, dass niemand einen mittelmäßig gebildeten Computerexperten suchte. Davon gab es schließlich weiß Gott genug.
Natürlich nutzte mir das nichts. Auf meinem Weg in die Weststadt wurde ich insgesamt dreimal interviewt. Den Anfang machte eine junge Frau, die mich entfernt an Samantha erinnerte und der ich vergleichsweise bereitwillig meine Meinung zur Zuverlässigkeit des Rhein-Main-Neckar-Verkehrsverbundes zu Protokoll gab. Im Zug selbst sprach mich jemand an, der wissen wollte, ob ich nach der Grundgesetzänderung zum Verbot Öffentlichen und Privaten Rauchens sowie Tabakkauens auch ein allgemeines Alkoholverbot befürwortete. Eine Frage, die mich so alarmierte, dass ich mir das amtliche Interviewer-Hologramm des Herrn zeigen ließ. Aber offensichtlich handelte es sich nur um einen dummen Zufall. Woher hätte jemand wissen können, dass ich mich gerade in diesem Augenblick auf dem Weg zu einem illegalen Etablissement befand, wo man genau diesem Laster frönen konnte? Diesen beiden, genauer gesagt, denn in der Schwarzen Zigarre konnte man sowohl rauchen als auch Alkohol trinken.
Es gelang mir sogar, meinen Interviewer an der Haltestelle Heidelberg Zentrum mit aussteigen zu lassen. Andernfalls hätte ich vermutlich mit ihm bis nach Mannheim fahren müssen, so lange und detailliert war das Interview. Schließlich wurde ich in der Bahnhofsstraße zur nächsten Kommunalwahl befragt. In Anbetracht dessen, dass es nur noch zwei politische Parteien gab, hielt sich der Fragenkatalog aber in Grenzen. Alles in allem hatte ich noch Glück gehabt. Die Themen der Interviews waren nicht uninteressant gewesen. Kowalskis sprichwörtliche Jogurtbecher hatten mich heute
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